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Nachteile smart ausgleichen

Text: Daniel Schwitzer | Lesezeit: 6 Minuten
Lea Schulz sitzt mit einem Tablet im Klassenzimmer.
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ChatGPT und andere smarte Systeme haben das Zeug, Schule künftig gerechter zu machen. Doch noch sind ein paar Hürden zu nehmen.

Lea Schulz’ Aha-Erlebnis, wie durch Alltagstechnologie Bildungschancen entstehen können, liegt schon ein paar Jahre zurück. 2014 war das, Kitas und Schulen funktionierten zu der Zeit noch größtenteils analog und Schulz, die aus dem hohen Norden stammt, arbeitete als „fliegende“ Sonderpädagogin in Schleswig-Holstein. Damals betreute sie auch eine Grundschülerin mit selektivem Mutismus. Kinder, die von dieser Sprachstörung betroffen sind, sprechen außerhalb ihres vertrauten Umfeldes gar nicht oder nur mit bestimmten Personen. Auch Lea Schulz mühte sich bei dem Mädchen monatelang vergeblich. Bis sie ihm eines Tages ein Tablet in die Hand gab. „Die Anschaffung hatte ich kurz vorher der Schulleitung abgetrotzt – das erste Gerät dieser Art an der Schule“, erzählt die Lehrerin. Sie erklärte dem Kind geduldig, wie der Flachrechner funktioniert und was man mit den verschiedenen Apps machen kann, dann verließ sie den Raum. „Als ich zurückkam, hatte sie mit der Aufnahmefunktion eine perfekt ausdifferenzierte Geschichte dort eingesprochen.“ Es war das erste Mal überhaupt, dass Schulz die Stimme des Mädchens hörte. „Da dachte ich nur: Wow, wir brauchen unbedingt mehr von diesen Dingern!“

Heute, zehn Jahre später, arbeitet Lea Schulz am Institut für Sonderpädagogik der Europa-Universität Flensburg und ihre Begeisterung für technologisch gestützte Lehr-/ Lernszenarien und dafür, wie diese die Bildung gerechter machen können, ist ungebrochen. Mit ihrer Forschung will die Diklusions-Expertin dafür Evidenz schaffen. Diklusion – den Begriff hat sie selbst erfunden, ein Kunstwort aus „digitale Medien“ und „Inklusion“. „Ich wollte deutlich machen, dass man beides nicht unabhängig voneinander denken kann“, sagt sie. „Die Frage ist, wie wir für jedes Kind genau das finden, was es braucht.“

Glaubt man Fachleuten, dann könnte die Antwort darauf bald ganz selbstverständlich lauten: mithilfe von Künstlicher Intelligenz. Spätestens seit der Markteinführung des Textgenerators ChatGPT im Herbst 2022 ist das Thema in der breiten Öffentlichkeit, und damit auch in der Schule, angekommen. Die Hoffnung, die mit der Zukunftstechnologie mitschwingt, könnte größer kaum sein. KI, so sagen Experten, habe das Zeug, eines der  drängendsten Probleme unseres Bildungssystems mindestens zu verringern: die Tatsache nämlich, dass nicht jedes Kind in Deutschland die gleiche Chance auf Bildungserfolg hat – sei es etwa, weil es aus einer armen Familie stammt, eine Einwanderungsgeschichte hat, körperlich oder emotionalsozial beeinträchtigt ist oder schlicht langsamer lernt als seine Klassenkameraden. Sogenannte Große Sprachmodelle wie ChatGPT, Lambda & Co. sollen in der Lage sein, gerade diesen Schülerinnen und Schülern zu assistieren und so ihre individuellen Nachteile auszugleichen.

Wie das gelingen kann, zeigt sich in Ansätzen schon heute an vielen Schulen. „Gerade im Bereich der Sprachbildung sehe ich Riesenvorteile“, sagt Gymnasiallehrerin Britta Kölling aus Hamburg. An ihrer Schule arbeitet sie unter anderem mit jungen Geflüchteten, die erst ein Jahr in Deutschland sind. Diese hätten natürlich noch extreme Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Smarte Tools könnten da effizient helfen. „Wenn die Schülerinnen und Schüler einen Arbeitsauftrag mal nicht verstehen, scannen sie den Text einfach mit ihren Handys, laden ihn hoch und prompten: Erklär mir das noch mal einfacher!“ Solche Aufträge erledige die KI großartig. Auch Kölling selbst verwendet Sprachmodelle, um Differenzierungsmaterial zu erstellen – für sie einer der größten Gewinne, den die neue Technologie ermögliche. „Das geht deutlich zeiteffizienter, als wenn ich es von Hand machen würde.“ Björn Frommann, Lehrer aus Berlin, lässt derweil seine Abschlussjahrgänge an einer Kreuzberger Sekundarschule ihre Bewerbungsanschreiben von ChatGPT überarbeiten. Er ist überzeugt: KI kann Vorurteile nivellieren, die Arbeitgeber gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern haben. „Manche wären supergut geeignet für einen bestimmten Ausbildungsplatz, fallen aber im Bewerbungsprozess durchs Raster, weil sie sich schriftlich nicht so gut ausdrücken.“ Frommann sieht Sprachmodelle in erster Linie als kreative Sparringspartner, die seinen Schülerinnen und Schülern neue Impulse geben könnten, wenn diese im Lernprozess nicht weiterkämen. „Die KI darf sie aber nicht dazu verleiten, ihr eigenes Denken auszuschalten.“

 

Test
Auch sie beschäftigen sich damit, wie KI-Systeme für mehr Chancen in der Bildung sorgen können: Lehrkräfte Britta Kölling (links, Foto: Hendrik Lüders) und Björn Frommann (Mitte, Foto: Privat) und Erziehungswissenschaftler Andreas Lachner (rechts, Foto: Universität Tübingen / Friedhelm Albrecht).

 

Derselben Ansicht ist der Erziehungswissenschaftler Professor Andreas Lachner. „Ich kann mir von ChatGPT sehr gut einen kompletten Aufsatz schreiben oder Lösungen für Klausuraufgaben geben lassen, aber allein dadurch habe ich noch nichts gelernt.“ Lachner, der an der Universität Tübingen das Center for Digital Education leitet, bewertet den didaktischen Nutzen von Sprachmodellen in der Schule vorsichtig. Bislang generierten diese nämlich größtenteils Erklärungen. „Wirkliches tutorielles Handeln, das Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken anregt, ist aber etwas ganz anderes.“ Damit ein didaktischer Mehrwert entstehe, müssten die Modelle für Schule und Unterricht erst einmal fruchtbar gemacht werden. „Aber das ist komplex und benötigt noch viel Forschung“, gibt er zu bedenken. Ein Weg könnte sein, ChatGPT & Co. mit den klassischen Intelligenten tutoriellen Systemen (ITS) zu verknüpfen, die es schon länger gebe, so Lachner. In ihrer derzeitigen Form jedenfalls seien die Sprachmodelle noch nicht in der Lage, Bildungsgerechtigkeit zu fördern. Zumal bislang nicht einmal der Zugang für alle Schülerinnen und Schüler gesichert ist – auch das eine Gerechtigkeitsfrage. So ist die Nutzung von ChatGPT in Schulen wegen des mangelnden Datenschutzes problematisch. Und erst wenige Bundesländer haben Landeslizenzen für spezielle Plattformen eingekauft, die die Sprachmodelle über eine Schnittstelle DSGVO-konform integrieren. In Hamburg etwa wartet Lehrerin Britta Kölling noch auf solch eine landesweite Lösung. Bis vor Kurzem hat sie sogar aus eigener Tasche für einen DSGVO-konformen Zugang gezahlt, der ihr und ihren Klassen die Nutzung im Unterricht ermöglichte. Mittlerweile kommt die Schule dafür auf. „Die Prozesse brauchen eben Zeit“, sagt Kölling, die in ihrem Bundesland auch ein Stück weit mit der Verwaltungsbrille auf die Zukunftstechnologie blickt. Beim Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung leitet sie als abgeordnete Lehrkraft die „Kompetenzstelle KI“ und hat mit ihren Kolleginnen und Kollegen seit dem Start von ChatGPT schon über 5.000 Hamburger Lehrkräfte fortgebildet. Das klinge viel, sei aber längst nicht genug, bekennt Kölling: „Wir können leider nicht alle Anfragen bedienen, die wir kriegen.“

Dabei ist der Aufbau von Wissen bei Lehrkräften wie auch bei Schülerinnen und Schülern aus Sicht von Diklusions-Expertin Lea Schulz derzeit die dringlichste Aufgabe. „Wie prompte ich so, dass die Maschine mir tatsächlich ein brauchbares Ergebnis liefert? Wie erkenne ich, ob die ausgespuckten Informationen korrekt sind oder ob ChatGPT bloß halluziniert?“ Wer eine umfassende KI-Kompetenz entwickele, werde künftig deutlich bessere Bildungschancen haben als jemand, der das nicht schaffe, ist sie überzeugt. Leider habe Deutschland in dieser Hinsicht geschlafen. Das Thema müsse dringend ins Lehramtsstudium und in die Fortbildungssysteme – und zwar verpflichtend. Dazu gehört laut Schulz auch der kompetente Umgang mit Daten: „Wir werden bald Programme haben, die Schülerinnen- und Schülerergebnisse auswerten und daraus Handlungsvorschläge ableiten. Wenn ich als Lehrkraft aber gar nicht verstehe, was technisch dahintersteckt, dann interpretiere ich diese Vorschläge vielleicht total falsch.“ Jetzt dringend loslegen, ist deshalb Schulz’ Credo. Denn die Technologie entwickele sich so rasend schnell, dass selbst Fachleute kaum noch mitkämen. „Da kann ich nachvollziehen, wenn sich Lehrkräfte überfordert fühlen –  bei all den Aufgaben, die sie sowieso schon haben…“ Kapitulation sei allerdings keine Option. „Wir müssen unsere Kinder KI-fit machen, und zwar möglichst schon ab der Grundschule. Das sind wir ihnen für ihre Zukunft schuldig.“


Dieser Artikel ist in Ausgabe Nr. 15 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Bildungschancen“ erschienen.