„Es kostet viel Energie“
Wer im Bildungssystem besondere Unterstützung benötigt, steht oft vor hohen Barrieren. Unsere drei Interviewpartner haben sich davon zum Glück nicht entmutigen lassen.
Sabine, Sie sind stark sehbehindert geboren und mittlerweile vollständig erblindet. Inklusion war in Ihrer Kindheit noch kein so großes Thema in der Bildung wie heute, oder?
Sabine Kuxdorf: Stimmt. Es war zum Beispiel gar nicht so einfach durchzusetzen, dass ich bei uns auf dem Dorf in den regulären Kindergarten gehen konnte. Die Gemeinde als Träger wollte sich anfangs nicht darauf einlassen, da mussten meine Eltern auch mal mit Anwälten drohen. In der Einrichtung bin ich dann aber sehr herzlich aufgenommen worden, die Leiterin und die Erzieherinnen dort haben mir immer den Rücken gestärkt. Deshalb war es für mich rückblickend auch eine schöne Zeit.
Und nach dem Kindergarten …
Sabine Kuxdorf: … bin ich erst auf eine Grundschule für blinde Kinder in Köln gewechselt und anschließend auf ein Internat in Marburg – eines von nur zwei Gymnasien in ganz Deutschland mit dem Förderschwerpunkt Sehen, wie es offiziell heißt. Das war damals meine eigene Entscheidung, zum einen wegen der inklusiven Ausstattung und Didaktik, zum anderen aber auch wegen der vielen Möglichkeiten, die es dort für mich gab: Ruderfreizeiten, Skifreizeiten, Reitunterricht… Ich durfte ganz viele Dinge ausprobieren, die an einer Regelschule nicht ohne Weiteres machbar gewesen wären. Inklusion finde ich als Konzept zwar total wertvoll und es ist eine schöne Vorstellung, dass alle gemeinsam beschult werden. In der Realität sind die Teilhabe- und Bildungsmöglichkeiten für Kinder mit Behinderung an Regelschulen aber noch nicht dieselben, zumindest nicht flächendeckend. An der Förderschule konnte ich mich letztlich voll aufs Lernen konzentrieren, ohne dass ich die ganze Zeit für meine Rechte hätte kämpfen müssen.
Anna-Lea, Sie sind von Dyskalkulie betroffen, einer Rechenstörung. Wie und wann wurde das festgestellt?
Anna-Lea Monter: Vermutungen gab es schon im Kindergarten, weil ich mich, als wir erste Zahlen gelernt haben oder auch bei Würfelspielen, immer so ein bisschen zurückgezogen habe. Meiner Erzieherin ist das aufgefallen und sie hat meine Eltern beiseitegenommen. Richtig diagnostizieren kann man Dyskalkulie allerdings erst in der Grundschule, wenn das mathematische Denken schon etwas ausgeprägter ist. Der Test im ersten Schuljahr fiel dann auch positiv aus. So konnte ich zum Glück schon früh gefördert werden und kann meine Schwächen dadurch heute ganz gut kompensieren.
Was unterscheidet Sie denn von jemandem, der einfach nicht so gut in Mathe ist?
Anna-Lea Monter: Den Unterschied merkt man schon. Ich brauche zum Beispiel immer genaue Uhrzeitangaben: Wir treffen uns um 13.45 Uhr? Kein Problem! Aber wenn mir jemand sagt, wir treffen uns in 20 Minuten, dann kann ich das nicht richtig einordnen. Auch Mengen wahrzunehmen, fällt mir schwer: Da hinten stehen fünf Stühle, das erfassen andere wahrscheinlich auf den ersten Blick. Ich muss stattdessen erst mal von eins bis fünf durchzählen. Ich kann im Restaurant auch überhaupt kein Trinkgeld geben, weil es mir schwerfällt, einen angemessenen Betrag zu überschlagen.
Wie offen gehen Sie mit Ihrer Rechenstörung um?
Anna-Lea Monter: Mittlerweile sehr offen, was ich insbesondere einer Mathelehrerin an meiner Realschule verdanke. Die ist so unbefangen an das Thema herangegangen, dass ich dadurch selbst auch an Lockerheit gewonnen habe. Seit der Zeit denke ich mir: Okay, es nervt zwar manchmal, aber die Dyskalkulie ist halt ein Teil von dir und du machst jetzt das Beste daraus.
Bozi, die jüngste PISA-Studie hat wieder einmal gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mit einer Zuwanderungsgeschichte hierzulande deutlich schlechtere Bildungschancen haben als solche ohne. Sie sind 2017 als 16-Jähriger aus Guinea nach Deutschland gekommen. Wie schwer war es für Sie, hier im Bildungssystem Fuß zu fassen?
Bozi Diallo: Es war sehr schwer, denn ich sprach ja kein Wort Deutsch. Trotzdem habe ich schon an meinem ersten Schultag zu meinen Lehrern am Berufskolleg gesagt: Ich will Abitur machen und studieren. Die haben allerdings nicht so richtig an mich geglaubt. Also musste ich mich anstrengen, viel kämpfen. Erst mal war mir vor allem die Sprache wichtig. Deshalb bin ich nachmittags nach der Schule immer zum Deutschkurs bei der AWO gegangen. Ich habe Bücher auf Deutsch gelesen, Filme und Serien auf Deutsch geguckt, hatte dann auch deutsche Freunde. Mit der Zeit wurde es besser.
Ich habe schon an meinem ersten Schultag gesagt: Ich will Abitur machen und studieren.
Bozia Diallo
Sie sagen, Ihre Lehrkräfte haben nicht an Sie geglaubt. War das nicht frustrierend?
Bozi Diallo: Mich hat es eher motiviert, aber es kostet schon viel Energie, wenn man als junger Mensch nicht ernstgenommen wird und sich immer wieder beweisen muss. Zum Glück gab es an der Schule eine ganz tolle Sozialarbeiterin, die immer für mich da war, mich auch in privaten Angelegenheiten unterstützt hat. Genauso wie mein Onkel, bei dem ich damals lebte. Ein Wendepunkt war für mich, als ich erst zum Klassensprecher, dann in die SV – also die Schülervertretung – und später sogar zum Schülersprecher gewählt wurde – als erste „Person of Color“ überhaupt an der Schule. Plötzlich kannte mich jeder, ich durfte über Dinge mitentscheiden, hatte einen direkten Draht zur Schulleitung.
Sabine, Sie sind nach dem Abitur an die Hochschule gegangen und haben kürzlich Ihren Bachelor abgeschlossen. Rückblickend: Was hat Ihnen auf Ihrem Bildungsweg am meisten geholfen?
Sabine Kuxdorf: Vor allem haben mich ganz viele Menschen immer wieder unterstützt und gefördert. Das war für mich ein großes Glück. Aber auch die Technik ist ein echter Gewinn – vom Screenreader bis hin zur Braillezeile, die ich an den Rechner anschließen kann. Das ermöglicht mir unheimlich viel Zugang zu Informationen – vorausgesetzt, diese Informationen sind barrierefrei aufbereitet.
Und was war schwierig?
Sabine Kuxdorf: Dass ich auf jeder neuen Station immer erst mal selber Vorarbeit leisten musste, um die Bedingungen zu schaffen, die ich brauchte: mich mit den Menschen zusammensetzen, ihnen meine Arbeitstechniken, meine Voraussetzungen und Bedarfe erklären. Erst danach konnte ich überhaupt in die Inhalte einsteigen. Das Problem ist, dass Behinderung bei uns häufig noch über die Diagnose des einzelnen Menschen definiert wird. Dabei entsteht die Behinderung ja quasi erst durch die Barrieren in der Umwelt. An meiner Hochschule habe ich im Inklusionsausschuss daran mitgearbeitet, genau solche Barrieren abzubauen. Außerdem durfte ich dort ein Empowerment-Seminar für Studierende mit Behinderung konzipieren, das dieses Semester zum ersten Mal stattfindet.
Anna-Lea Monter: Das, was Du beschreibst, kann ich total gut nachvollziehen: Für mich war es auch immer ein Horrorszenario, wenn ich irgendwo neu angefangen habe oder einen neuen Lehrer bekommen habe, nach vorne gehen und dem meine Dyskalkulie erklären zu müssen. Einmal hat mir einer geantwortet: „Das kann nicht sein. Das muss sich doch inzwischen ausgewachsen haben.“ Das fand ich eine echt schlimme und verletzende Reaktion. Es ist ja okay, wenn Menschen über bestimmte Beeinträchtigungen nicht richtig Bescheid wissen. Aber dann sollen sie wenigstens zuhören und sich aufklären lassen. Wir Betroffenen sind doch die Profis und wissen, was Sache ist!
Sabine Kuxdorf: Da kann es manchmal ein Privileg sein, eine sichtbare Behinderung zu haben. Ich muss mich wenigstens nie rechtfertigen.
Anna-Lea Monter: Im Gegensatz zu Legasthenie ist Dyskalkulie halt auch relativ unbekannt. Oft bleibt sie bei Betroffenen sogar unentdeckt – dann redet man sich vielleicht sein Leben lang ein: Ich bin dumm, ich kann kein Mathe. Obwohl es dafür ja einen Grund gibt. Deshalb ist Aufklärungsarbeit auch so wichtig. Ich arbeite heute als Erzieherin und habe bei uns in der Einrichtung mal eine Teamsitzung zu Dyskalkulie vorbereitet. Die meisten meiner Kolleginnen hatten tatsächlich noch nie davon gehört.
Bozi Diallo: Aufklärung ist für mich ein wichtiges Stichwort, denn ich habe in Deutschland durchaus auch Rassismus und Diskriminierung erlebt, sogar an unserer Schule. In der SV habe ich mich deshalb dafür eingesetzt, dass wir Teil des bundesweiten Netzwerkes „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ werden. Das ist eine Art Selbstverpflichtung, die mindestens 70 Prozent der Schulgemeinde unterschreiben müssen. Mit ganz viel Aufklärungsarbeit in Sprechstunden und bei Tagen der offenen Tür ist uns das am Ende tatsächlich gelungen. Seitdem hat sich die Mentalität an der Schule wirklich verändert, es gibt viel mehr Akzeptanz. Für uns in der SV war die Aufnahme in das Netzwerk ein Riesenerfolg, auch weil der erste Versuch ein paar Jahre vorher noch gescheitert war. Deshalb haben wir das richtig gefeiert.
Bozi, was würden Sie einem jungen Menschen raten, der heute nach Deutschland einwandert und in einer ähnlichen Situation ist wie Sie vor sieben Jahren?
Bozi Diallo: Ich würde ihm raten, viel zu lernen, sich auch neben der Schule zu engagieren und niemals aufzugeben. Und ich würde ihm empfehlen, sich um ein Stipendium zu bewerben. Ich selbst bin Stipendiat der Start-Stiftung. Die Stiftung fördert Jugendliche mit Migrationshintergrund, nicht nur finanziell, sondern auch mit bundesweiten Seminaren und Workshops, wo man dann wiederum andere Stipendiaten kennenlernt. Einige davon sind heute wie eine Familie für mich. Ich glaube allerdings, dass viele Schülerinnen und Schüler gar nichts über solche Stipendienprogramme wissen. Oder sie denken, sie sind nicht gut genug. Dabei kann man nicht so gute Noten auch mit sozialem Engagement ausgleichen.
Abschließend: Wenn Sie sich etwas vom Bildungssystem wünschen dürften – was wäre das?
Sabine Kuxdorf: Es hätten viel mehr Menschen Zugang zu Bildung, wenn es nicht so viele bürokratische Hürden gäbe, die Teilhabe verhindern. Deshalb wäre mir wichtig, dass diese Bürokratie abgebaut wird.
Bozi Diallo: Ich wünsche mir, dass die Deutschkurse für Zugewanderte reformiert werden. So wie sie sind, funktionieren sie nämlich einfach nicht. Und die Sprache zu lernen, ist nun mal das Wichtigste, wenn du neu in ein Land kommst.
Anna-Lea Monter: Ich finde, es dürfte im Jahr 2024 nicht mehr sein, dass Menschen wie wir dafür kämpfen müssen, in Schulen und Hochschulen akzeptiert zu werden. Die Gesellschaft ist bunt und divers und dann ist es doch die Pflicht des Bildungssystems, Barrieren zu beseitigen.
Dieser Artikel ist in Ausgabe Nr. 15 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Bildungschancen“ erschienen.