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Es muss nicht immer der dicke Wälzer sein

Text: Daniel Schwitzer | Lesezeit: 4 Minuten
Jugendliche nehmen ein Video vor einem Greenscreen auf.
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Im media.lab in Neu-Ulm lernen junge Zuwanderer, kompetent mit digitalen Medien umzugehen – und entwickeln ganz nebenbei Leseinteresse.

Jungen Menschen Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien vermitteln und ihnen gleichzeitig Lust auf Bücher und aufs Lesen machen? Was zunächst wie ein Widerspruch klingt, lässt sich an der Berufsschule im bayerischen Neu-Ulm jeden Mittwochnachmittag beobachten. Dann nämlich öffnet auf dem Schulcampus das media.lab seine Pforten. Ausgestattet mit bequemen Sitzsäcken, aber auch mit Notebooks, Tablets, Kamera, Video- und Audioschnitt-Software, Greenscreen und Beleuchtung, lädt die Einrichtung junge Besucher zum kreativen Experimentieren mit digitaler Technik ein. Genutzt wird das Lab insbesondere von den Schülerinnen und Schülern der Integrationsklassen der Schule – allesamt Jugendliche zwischen 16 und 21, die noch nicht lange in Deutschland leben, viele von ihnen geflüchtet aus Afghanistan, aus der Ukraine, aus Afrika. Im media.lab sollen sie außerhalb des regulären Unterrichts zwanglos ihre Deutschkenntnisse verbessern und im besten Fall ein Leseinteresse entwickeln. Allerdings nicht unbedingt dadurch, dass sie sich durch dicke Wälzer kämpfen. Die gibt es dort zwar auch, im Vordergrund steht aber die Arbeit mit Tablet, Videokamera & Co.

„Einige der Schülerinnen und Schüler haben wirklich noch nie ein Buch gelesen, weder auf Deutsch noch in ihrer Muttersprache“, erzählt Lehrerin Martina Spodareva, die das media.lab Neu-Ulm an ihrer Schule gegründet hat. „Wenn wir sie hier dazu bringen wollen, sich mit Lektüre zu beschäftigen, dann geht das nur über ein interessantes Projekt. Dann haben sie auch Spaß am Lesen. Dann sehen sie für sich einen Sinn darin.“

Solch ein Projekt – das kann zum Beispiel ein Filmdreh sein, so wie kürzlich, als die Jugendlichen eine Geschichte, die sie zuvor im Deutschunterricht durchgenommen hatten, im media.lab in ein Drehbuch mit Dialogen umschrieben und dieses mit der Handykamera verfilmten. Auch ein Hörspiel haben die Schülerinnen und Schüler schon produziert. „Da haben wir erst mal in mehreren Sitzungen nur die Geschichte gemeinsam laut gelesen, damit die Schülerinnen und Schüler ein Gespür für die Sprache und den Rhythmus bekommen“, erzählt Martina Spodareva. Anschließend sprachen sie den Text mit verteilten Rollen ein, nahmen mit ihren Handys Geräusche auf, die zur Geschichte passten, mischten alles zusammen und erledigten am Ende den Feinschnitt mit einer speziellen Software auf dem Tablet.
 

Auf einem Tablet wird ein Video mit Software geschnitten.



Jugendliche durch die Hintertür zum Lesen animieren

Das media.lab in Neu-Ulm ist eines von insgesamt rund hundert, die seit 2018 in ganz Deutschland entstanden sind – an Schulen, aber auch in Jugendhäusern, Bibliotheken und Vereinen. Verantwortlich für das Angebot ist die Stiftung Lesen. Unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“, fördert die Stiftung die Grundausstattung der Labs mit Mobiliar, Büchern und digitaler Technik und bildet das pädagogische Personal vor Ort zum Thema digitale Lese- und Medienförderung fort. „Unser Ziel ist, mit den media.labs dem sogenannten ‚Leseknick‘ entgegenzuwirken, der bei vielen Jugendlichen während der Pubertät auftritt und sich in einer deutlichen Abnahme des Leseinteresses äußert“, erklärt Sebastian Niesen, Projektmanager der media.labs bei der Stiftung Lesen. Die allermeisten Labs richten sich deshalb auch an 12- bis 18-Jährige. Sie böten den jungen Menschen einen anderen Zugang zu Lektüre, indem sie sie direkt in ihrer Lebenswelt abholten. Und die sei heute nun mal digital und multimedial. „Wir versuchen sie quasi durch die Hintertür zum Lesen zu animieren.“

Zum Beispiel mit Comics. „Die eignen sich dank der Kombination von Bild und Text super zur Leseförderung“, unterstreicht Niesen. Im media.lab in Neu-Ulm sind sie so auch ein beliebter Teil des pädagogischen Angebots. Auch hier steht allerdings das aktive Tun im Vordergrund: Statt die bunten Bildstreifen einfach nur zu lesen, produzieren die Schülerinnen und Schüler selber welche. Sie denken sich eine Geschichte aus, schießen Fotos und fügen am Rechner Sprechblasen mit Texten hinzu. Die Themen, die sie sich für ihre Comics aussuchen? „Liebe natürlich“, weiß Martina Spodareva. „Aber auch aktuelle Themen wie Umweltschutz. Einen Krimi haben sie auch schon mal gemacht.“

Die Berufsschullehrerin stemmt das media.lab übrigens nicht allein. Als Partner involviert ist das Familienzentrum Neu-Ulm, das sowohl seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, wenn am Wochenende die Schule geschlossen ist, als auch ehrenamtliche Kräfte zur Unterstützung der Projektarbeit schickt. „Als Familienzentrum ist es uns wichtig, Chancengleichheit unter Kindern und Jugendlichen zu fördern, ihnen insbesondere auch die Integration zu erleichtern, wenn sie aus dem Ausland zu uns kommen. Deshalb ist das media.lab für uns genau das richtige Projekt“, sagt Leiterin Juliane Ott.


Notwendige Alltagskompetenzen

Auch Sebastian Niesen von der Stiftung Lesen freut sich über die Kooperation der beiden Partner in Neu-Ulm. „Lesekompetenz gehört für uns genauso wie Medienkompetenz zu den Alltagsfähigkeiten, die heute zwingend notwendig sind, wenn man aktiv an der Gesellschaft teilhaben will“, betont er. „Und die media.labs sind tolle Orte, an denen beides spielerisch vermittelt wird.“


Ausgabe Nr. 14 unseres Bildungsmagazins sonar beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema Medienkompetenz. Auch das media.lab Neu-Ulm kommt darin kurz vor. Wir fanden die Einrichtung aber so spannend, dass wir ihr hier noch einmal einen längeren Text widmen.