Lehren hinter Gittern
Tobias Wölk unterrichtet an einem Ort, den man nicht mit Schule verbindet: einer Justizvollzugsanstalt. Was bewegt ihn dazu, mit Strafgefangenen zu arbeiten?
Mit dem Geräusch einer schweren Stahltür, die hinter ihnen ins Schloss fällt, beginnt der zweite Teil des Schultages für sieben erwachsene Schüler. Begleitet von ihrem Lehrer Tobias Wölk, betreten die Männer an einem Julimorgen den Unterrichtstrakt der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gelsenkirchen. Neben den Klassenzimmern und einem Computerraum gibt es auch eine Kabine für Justizbeamte, die für die Sicherheit aller Anwesenden sorgen. Mit einem großen Schlüssel, der mehr nach einem Werkzeug als nach einem Türöffner aussieht, hat Tobias Wölk die Klassenzimmertür geöffnet. Am Hosenbund trägt er eine Art Walkie-Talkie, ein sogenanntes Personen-Notsignal-Gerät. Es soll ihn schützen, wenn er in Gefahr gerät und schnell Verstärkung braucht. Tobias Wölk ist eine von sieben Lehrkräften der Gefängnisschule, offiziell als pädagogischer Dienst der JVA bezeichnet. Seine Schüler sind Strafgefangene, die für Diebstahl, Drogenhandel oder Gewaltdelikte verurteilt wurden.
Die Schülergruppe kommt gerade aus der Pause. 20 Minuten haben sie sich auf einem eingezäunten Teil des Sportplatzes die Beine vertreten, kurz geraucht. Jeder Schüler hat eine transparente Plastiktasche in der Hand. Ein Ordner, ein Heft und ein paar Stifte sind darin. Einer der Häftlinge geht zur Tafel und wischt sie sauber. Die anderen unterhalten sich, scherzen, setzen sich auf ihre Plätze. Tobias Wölk geht zum Lehrerpult, begrüßt die Klasse und hakt die Anwesenheit ab.
Grundstein für ein straffreies Leben
„Wie sieht es mit den Hausaufgaben aus?“, fragt er in die Runde. Heute steht eine Doppelstunde Deutsch als Fremdsprache auf dem Stundenplan. Das Thema: Steigerung von Adjektiven. Tobias Wölk wirft mit einem Overhead-Projektor ein Arbeitsblatt an die Wand. Die Mehrheit der Klasse hat die Aufgaben bearbeitet. Reihum lesen die Männer ihre Ergebnisse vor. Wie lautet der Superlativ von schön, wie von gut? Mit den Antworten tun sich viele schwer. Tobias Wölk erklärt geduldig, nennt Beispiele, schreibt sie an die Tafel und unterstreicht die wichtigsten Wörter.
„Deutsch zu unterrichten, war am Anfang eine große Umstellung für mich“, sagt der Pädagoge. Er ist Ingenieur und hat Maschinenbau- und Fertigungstechnik an einer Berufsschule gelehrt. Noch im Referendariat merkte er, dass es ihm besonders viel Spaß macht, sogenannte Problemklassen zu unterrichten. „Mir liegt das. Ich habe relativ schnell einen guten Draht zu den Schülern.“ Einer seiner Kollegen unterrichtete als externe Lehrkraft an einer JVA und erzählte ihm von der Arbeit dort. Tobias Wölk hospitierte daraufhin selbst in einer JVA und beschloss, nach dem Referendariat in den pädagogischen Dienst zu gehen. In Deutschland gibt es insgesamt 379 Stellen wie die von Wölk.
„Welche Straftat die Häftlinge begangen haben, spielt im Unterricht keine Rolle.“
(Tobias Wölk, Lehrkraft im pädagogischen Dienst der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen)
In seinen Schulstunden orientiert sich der 34-Jährige jetzt nicht mehr an einem festen Lehrplan, sondern vor allem an den Bedürfnissen seiner Schüler. Diese lauten meist: Deutschkompetenzen verbessern und das schulische Basiswissen in Mathematik, Geschichte und Naturwissenschaften auffrischen. Im Fachjargon sprechen die Lehrkräfte von Liftkursen. Sie sollen die Fähigkeiten der Schüler auf ein Niveau heben, das sie für einen Schulabschluss oder den Start einer Ausbildung brauchen. Einen Abschluss können die Häftlinge an der JVA in Gelsenkirchen nicht nachholen. Dafür müssen sie die Einrichtung wechseln oder nach der Entlassung eine Regelschule besuchen. Der Vorteil: Weil es keine Abschlussprüfung gibt, haben Tobias Wölk und seine Schüler größtmögliche Freiheit in der Unterrichtsgestaltung.
Was Tobias Wölk antreibt? „Ich möchte meinen Schülern einen Weg in ein straffreies Leben nach der Entlassung aufzeigen“, antwortet er. „Welche Straftat sie begangen haben, spielt im Unterricht keine Rolle.“ Es sind kleine Erfolge, die dem Lehrer vor Augen führen, welchen Einfluss sein Unterricht auf den Alltag seiner Schüler hat. „Ich hatte mal einen Schüler, der noch nie am Computer gearbeitet hat. In unserem PC-Kurs hat er den Umgang mit Textverarbeitungsprogrammen gelernt. Jetzt schreibt er seine Briefe an die Behörden digital und nicht mehr von Hand. So eine persönliche Entwicklung freut mich sehr. Alle erreicht man nicht, aber die meisten nehmen die Hilfe dankend an.“ Einen Schüler in seinem Deutschkurs, dessen Namen wir nicht nennen dürfen, hat Tobias Wölk auf jeden Fall erreicht. Er will sich für den Hauptschulabschluss fit machen und Berufskraftfahrer werden. „Draußen habe ich das nicht geschafft. Hier habe ich genug Zeit. Das ist besser, als in der Zelle zu hocken“, erzählt er.
Schule als Privileg
Um während der Haftzeit die Schule besuchen zu dürfen, müssen Strafgefangene einen Antrag stellen. Die Lehrkräfte der JVA prüfen, ob das Verhalten im Gefängnisalltag einen Schulbesuch zulässt. Fällt die Entscheidung positiv aus, gehen die Häftlinge an fünf Tagen in der Woche zur Schule anstatt zu arbeiten. Normalerweise besteht im Strafvollzug Arbeitspflicht, die Gefangenen helfen beispielsweise in der Küche oder in einer Werkstatt. Ein Schulbesuch wird wie eine Arbeitsstelle behandelt. Für Leistungen wie Anwesenheit im Unterricht oder gemachte Hausaufgaben erhalten die Strafgefangenen einen Lohn. Ein Teil ihres Lohns wird von der JVA als Überbrückungsgeld einbehalten, das den Gefangenen später als Starthilfe für die ersten Wochen nach der Entlassung dient. Den Rest dürfen sie während der Haftzeit für persönliche Ausgaben verwenden.
Schule im Justizvollzug ist dabei mehr als die Vermittlung von Wissen. Im pädagogischen Dienst stärken die Lehrkräfte auch Alltagskompetenzen, fördern soziale und kommunikative Fähigkeiten. Tobias Wölk bietet beispielsweise zusätzlich Computerkurse und einen Erste-Hilfe-Kurs an. In anderen Justizvollzugsanstalten geben Pädagogen Kunst-, Musik- oder Literaturworkshops. Im sauerländischen Siegburg etwa produzieren Lehrkräfte gemeinsam mit Gefangenen den Podcast „Podknast“, in dem Inhaftierte über verschiedene Themen aus dem Gefängnisalltag sprechen. Solche Projekte eröffnen den Häftlingen neue Möglichkeiten und geben ihnen Impulse, von denen sie nach der Entlassung profitieren können.
„Die Entscheidung für einen Schulbesuch ist eng verbunden mit dem Wunsch, das eigene Leben zum Besseren zu verändern. Wir Lehrer helfen den Häftlingen dabei“, so Tobias Wölk. Hinter verschlossenen Türen und vergitterten Fenstern erarbeiten Schüler und Lehrkräfte gemeinsam Zukunftspläne – für einen Neustart nach der Haft.
Dieser Artikel ist in Ausgabe Nr. 16 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Freiräume“ erschienen.