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Diversität ist unsere Stärke

Text: Daniel Schwitzer | Lesezeit: 3 Minuten
Mädchen hält Kanadaflagge in der Hand.
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Regelmäßig Spitzenleistungen bei PISA, gute Bildungschancen für alle: Wovon Deutschland träumt, schafft Kanada scheinbar spielend. Bloß wie? Bildungsexpertin Brandy Yee nimmt uns mit in ihr Land.

„Wenn ich an der Universität angehende Lehrkräfte unterrichte, dann zeige ich ihnen immer ein Bild von einem Berggipfel und sage: Das ist der Gipfel, auf den wir jeden einzelnen Schüler bringen müssen. Manch einer wird für den Aufstieg vielleicht ein bisschen länger brauchen, aber wir bleiben trotzdem bei ihm und unterstützen ihn so lange, bis er oben ist. Diese Haltung versuche ich meinen Studierenden zu vermitteln: das Bewusstsein, dass Aufgeben einfach keine Option ist und dass wir jedem Schüler eine solide Ausbildung schuldig sind.

Nicht ohne Grund gilt unser Bildungssystem weltweit als eines der chancengerechtesten. Zum Beispiel wird in Kanada der Schulerfolg eines Kindes viel weniger von dessen sozioökonomischer oder ethnischer Herkunft beeinflusst als bei euch in Deutschland. Wie uns das gelingt? Einerseits durch zielgerichtete Unterstützung. Gelder und andere Fördermaßnahmen werden in Kanada nicht mit der Gießkanne verteilt. Stattdessen wissen wir durch die enge Zusammenarbeit zwischen den Schulleitungen, den Schulämtern auf Bezirksebene und den Bildungsministerien in den Provinzen sehr genau, wo sie wirklich benötigt werden. Früher habe ich in meiner Heimatprovinz Alberta in einem Bezirk gearbeitet, wo viele ‚New Canadians‘ lebten, wie wir unsere Einwanderer nennen. An den Schulen dort wurde natürlich besonders viel Mühe darauf verwendet, Sprachdefizite abzubauen. Darüber hinaus konnten die Schüler aber zum Beispiel auch kostenlos Sinfoniekonzerte besuchen oder den Zoo, was normalerweise vielleicht nicht erschwinglich für sie gewesen wäre. Kindern und Jugendlichen auch außerschulische Lernerfahrungen ermöglichen, die Schulen in die Communitys hinein öffnen – auch das fördert Bildungsgerechtigkeit.
 

Porträtfoto von Brandy Yee
Dr. Brandy Yee hat in Calgary Lehramt studiert und in Heidelberg über die Pädagogik der Jugendphase promoviert. In der westkanadischen Provinz Alberta war sie viele Jahre lang Lehrerin und Schulleiterin, beriet zudem auf Bezirksebene Schulen in ihrem Qualitätsmanagement. Heute bildet sie als Universitätsprofessorin in den USA angehende Lehrkräfte aus.
(Foto: California Lutheran University)


Andererseits verstehen wir Kanadier uns stark als Einwanderungsgesellschaft. Diversität ist für uns kein Defizit, sondern eine Stärke, und daran orientiert sich auch unsere Pädagogik. Statt zu versuchen, alle Kinder gleichzumachen, fragen wir uns immer: Was kann jedes einzelne Kind aus seiner Kultur zu uns mitbringen? Das fördert den Zusammenhalt. Wobei Diversität sich natürlich nicht nur auf die Herkunft bezieht. Unsere öffentlichen Schulen sind komplett inklusiv, spezielle Förderschulen gibt es zumindest im öffentlichen Sektor längst nicht mehr. Alle Kinder lernen zusammen – unabhängig von ihren jeweiligen Voraussetzungen. Dabei erhält jeder Schüler seinen eigenen Förderplan, der auf regelmäßigen diagnostischen Tests beruht und dadurch perfekt auf ihn zugeschnitten ist. Überhaupt ist unser Schulsystem sehr datengetrieben; es gibt laufend Assessments, die uns helfen zu erkennen, was jeder braucht.

Natürlich hat auch Kanada in der Bildung nicht immer alles richtig gemacht. Beschämend ist, wie wir in der Vergangenheit mit den Kindern unserer indigenen Völker umgegangen sind, der First Nations, Inuit und Métis. Sie wurden über Jahrzehnte in Internaten isoliert und kaum gefördert. Noch heute gibt es bei den Leistungen der indigenen Schüler gegenüber den nichtindigenen ein Gefälle. Das zu ändern, darauf liegt jetzt der Fokus der Bildungspolitik.

Letztlich steht und fällt Bildungsgerechtigkeit immer auch mit den Lehrkräften. Es geht nicht allein darum, den Stoff zu vermitteln, sondern auch um Beziehungsarbeit, es geht darum, im Klassenzimmer Bedingungen zu schaffen, unter denen die Schüler gut lernen können. Das ist nach der Pandemie jetzt noch mal wichtiger geworden. In der Ausbildung unserer Lehrkräfte stellen wir deshalb traditionell die Pädagogik in den Vordergrund. Das habe ich in Deutschland anders erlebt, dort wird zum Beispiel ein angehender Mathematiklehrer vor allem in Mathematik ausgebildet. In Kanada bringen wir unseren Lehrkräften erst bei, wie sie Kinder unterrichten, und danach, wie sie Mathematik unterrichten. Nur so können sie später mögliche Barrieren erkennen und einreißen – damit alle die gleichen Bildungschancen haben.“


Dieser Artikel ist in Ausgabe Nr. 15 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Bildungschancen“ erschienen.