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„Gebt euren Kindern ein Basislager.“

Text: Daniel Schwitzer | Lesezeit: 8 Minuten
Elisabeth Raffauf und Jan Weiler stehen gemeinsam an einem Tischkicker.
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Wie kommen Jugendliche gut durch die Pubertät? Die Psychologin Elisabeth Raffauf und der Schriftsteller Jan Weiler im Gespräch über die richtige Balance zwischen Freiräume gewähren und Grenzen setzen.

Frau Raffauf, Sie beschäftigen sich als Psychologin viel mit dem Thema Pubertät. Warum fordern Jugendliche in dieser Phase plötzlich Freiräume ein, testen Grenzen aus?

Elisabeth Raffauf: Weil sie auf der Suche nach ihrem eigenen Weg sind. Wer bin ich? Wo ist mein Platz in dieser Welt? Wo möchte ich hin und wer begleitet mich dabei? Wo gehöre ich dazu? Das sind die Fragen, die in dieser Zeit wichtig sind. Es geht um Identitätsfindung – und um Abgrenzung. Und dann signalisiert man den Eltern halt auch mal: Stopp, Instagram ist nur für mich, und wenn ihr jetzt auch da seid, dann gehe ich woanders hin.


Social Media ist ein gutes Beispiel. Herr Weiler, Sie haben die Pubertät Ihrer Kinder literarisch verarbeitet. Mit viel Humor zwar, aber hat es nicht doch auch ein bisschen wehgetan, als Ihre Tochter Sie eines Tages auf Facebook „entfreundet“ hat?

Jan Weiler: Das war tatsächlich demütigend. Schlimmer fand ich aber, als mir bei WhatsApp plötzlich kein blaues Häkchen mehr angezeigt wurde, meine Kinder also die Lesebestätigung abgestellt haben. Manchmal braucht man ja doch schnell eine Antwort und dann haben die aber keinen Bock zurückzuschreiben und wissen auch, dass sie es gar nicht müssen, weil sie einen ja im Unklaren lassen, ob sie es überhaupt gelesen haben. Das bringt mich wahnsinnig auf die Zinne! Auch, weil sie umgekehrt natürlich erwarten, dass ich immer zackig antworte.


Sind Freiräume für die junge Generation heute in erster Linie technologische Freiräume?

Jan Weiler: Ja. Denken Sie an TikTok, dieses nervöse Medium mit dem ganzen Gezappel – da kommen die meisten Erwachsenen einfach nicht mehr mit. Musik und exzessive Mode sind dagegen heute keine Optionen mehr. Punkrock, Hip-Hop, Piercings, Tattoos – das kennen die Eltern ja alles aus ihrer eigenen Jugend. Wie will man sich als Pubertier denn bitte noch abgrenzen, wenn Mütter und Töchter heute die Klamotten miteinander teilen oder wenn Väter und Söhne gemeinsam aufs „Green Day“-Konzert gehen?

Elisabeth Raffauf: Eltern wollen beim Abendbrot ja manchmal wissen: Was hast du heute gemacht? Inzwischen müssten sie eigentlich fragen: Was hast du heute im Internet gemacht? Um überhaupt noch was von ihren Kindern mitzukriegen. Aber vielleicht trauen sich Jugendliche heute ohnehin seltener, gegen die Eltern aufzubegehren. Sie erleben in ihren Familien ja viel mehr Brüche und Unsicherheiten. Und denken dann vielleicht: Wenn ich jetzt auch noch Stress mache, dann fliegt hier alles auseinander.
 

Die Aufgabe der Kinder ist zu gucken, was geht. Und Eltern müssen manchmal zeigen, was nicht geht.
Elisabeth Raffauf


Welche Freiräume haben Sie sich gesucht, als Sie jung waren?

Elisabeth Raffauf: Ich habe meinen Eltern wirklich große Probleme bereitet. Ich war so ein bisschen gruftie-ähnlich, alles bei mir war schwarz und ich hab auch alles ausprobiert: Drogen, Alkohol … Als ich 14 war, bin ich von zu Hause abgehauen. Meine Freunde, älter als ich, fuhren damals schon Moped, ich hinten drauf, und dann haben wir auch prompt einen Unfall gebaut. Meine Schneidezähne, die ich gerade mühsam mit der Spange in Form gebracht hatte – alle weg. Auch die Kniescheibe war gebrochen. Und als meine Eltern dann zu mir ins Krankenhaus kamen, hab ich sie auch noch als die schlechtesten Eltern der Welt beschimpft. Danach haben sie mich eine Zeit lang an die ganz kurze Leine genommen. Freiräume gab es für mich erst mal nicht mehr. Als ich später selbst Kinder bekommen habe, habe ich gedacht: Okay, wenn die mit dir machen, was du mit deinen Eltern gemacht hast, dann musst du dich warm anziehen.

Jan Weiler: So schlimm wie Frau Raffauf war ich nicht. Ich komme aus einem total bildungsbürgerlichen Elternhaus, mit Theater-Abo, Opern-Abo und so weiter. Trotzdem ging es immer wahnsinnig laut zu bei uns. Meine beiden Brüder und ich spielten Schlagzeug und E-Gitarre. Ständig klingelte es an der Tür und Freunde kamen zu Besuch. Aber unsere Eltern haben das mit unheimlich viel Humor und Geduld ertragen. Ich kann mich auch gar nicht erinnern, dass ich mal für irgendetwas hart bestraft worden wäre. Nicht mal, als ich in der neunten Klasse sitzengeblieben bin. Auch als ich zum ersten Mal mit gefärbten Haaren nach Hause kam, hat sie das kaum zu einer Reaktion bewegt. Wie liberal sie uns erzogen haben – das rechne ich meinen Eltern bis heute hoch an. Nur zwei Regeln gab es bei uns, die nicht verhandelbar waren. Erstens: Sonntagmittags wurde zusammen gegessen. Und zweitens: Jeder musste mal mit dem Hund raus. Wir hatten also eher zu viele Freiräume als zu wenige.


Hat sich das darauf ausgewirkt, wie Sie später Ihre Kinder erzogen haben?

Jan Weiler: Meine Tochter, die heute 25 ist, hat sich neulich darüber beschwert, dass ihr ein bisschen mehr Strenge gutgetan hätte. Tatsächlich gab es bei uns – auch wegen meines Jobs, für den ich häufig die Hälfte des Jahres unterwegs war – in etwa so viel Struktur wie in der Villa Kunterbunt. Im Nachhinein tut mir das leid, weil meine Kinder es dadurch schwerer hatten, sich zu orientieren. Man hört das ja oft, dass Kinder, die sehr frei erzogen werden, später Schwierigkeiten mit Autorität haben. Die halten es nicht mal aus, vom Fahrlehrer angeschnauzt zu werden, ohne sofort keinen Führerschein mehr machen zu wollen.


Sind Jugendliche heute zu wenig resilient?

Elisabeth Raffauf: Natürlich sollte man Kindern in Maßen auch Frustration zumuten, denn daran lernen sie, dass sie auch mit Schwierigkeiten zurechtkommen können. Manche Eltern wollen ihren Kindern alle Steine aus dem Weg räumen, das ist aber überhaupt nicht hilfreich. Irgendwann sind sie erwachsen und sagen immer noch: Papa, mach mal! Das andere Extrem sind zu viele Freiräume. Kinder versuchen dann häufig die Lücken auszufüllen und übernehmen eine Verantwortung, die sie noch gar nicht tragen können. Als Erwachsene fühlen sie sich dann häufig auch für Dinge verantwortlich, für die sie gar keine Verantwortung haben.
 

Meine Tochter beschwert sich heute, dass ihr mehr Strenge gutgetan hätte.
Jan Weiler


Wie finden Eltern denn in der Pubertät ihrer Kinder die richtige Balance zwischen Freiräume gewähren und Grenzen setzen?

Elisabeth Raffauf: Das fragen mich Eltern ganz oft. Das Wichtigste ist, in Kontakt mit den Kindern zu sein, Verständnis für sie aufzubringen, statt ihnen Vorträge zu halten oder Vorwürfe zu machen. Wobei Verständnis nicht gleichbedeutend ist mit alles gut finden. Man kann zum Beispiel sagen: Ich verstehe total, dass du jetzt gerade etwas anderes im Kopf hast, als den Mülleimer runterzubringen. Aber der ist halt gerade voll. Würdest du es deshalb bitte trotzdem machen! Hilfreich ist es auch, sich an die eigene Pubertät zu erinnern und daran, wie furchtbar man damals die Eltern fand. Dann nimmt man es direkt viel leichter, wenn die Kinder einen auch mal eine Zeit lang furchtbar finden. Mein Leitsatz für Eltern ist: Fühlen Sie sich nicht so persönlich gekränkt! Die Aufgabe der Kinder ist doch zu gucken, was geht. Und als Eltern muss man manchmal eben zeigen, was nicht geht. Wenn jeder seinen Job macht, dann entsteht Reibung. Wichtig ist, dass man sich nach einem Krach auch wieder versöhnt.

Jan Weiler: Was das Thema Verständnis angeht, hat mir mein Sohn mal eine echte Lektion erteilt. Wir sitzen beim Abendbrot und ich frage ihn, ob er die Mathearbeit schon zurück hat, was sie gerade in Deutsch machen und so weiter. Aber er stochert nur lustlos in seinem Essen herum und sagt nichts. Darauf ich zu ihm: Was ist denn los? Und er genervt: Papa, hättest du Bock, dass ich dich jedes Mal, wenn wir am Tisch sitzen, frage, ob dein neues Buch eigentlich schon fertig ist? Hätte ich natürlich nicht, ich will ja in Ruhe essen. In dem Moment hat es richtig klick gemacht bei mir. Danach haben wir beim Essen nie wieder über die Schule geredet.


Apropos Schule: Während der Pubertät werden die Noten ja häufig schlechter und das Interesse nimmt ab, gerade auch in den MINT-Fächern. Sind Eltern da eigentlich völlig machtlos oder können sie etwas tun?

Elisabeth Raffauf: Schule ist in diesem Alter einfach nicht dran. Die Jugendlichen wollen was erleben, wollen Erfahrungen sammeln, statt in der Schule zu sitzen und Wissen eingetrichtert zu bekommen. Da nützen auch Belohnungen oder Strafen durch die Eltern höchstens kurzfristig. Eine gute Chance, ihr Interesse zu wecken, haben wahrscheinlich noch die Lehrkräfte: Indem sie den Unterricht anschaulich und abwechslungsreich gestalten. Und ihren Schülern zeigen, dass sie sie als Person sehen und achten.

Jan Weiler: Ich wäre sowieso dafür, unser Schulsystem völlig umzubauen in Richtung Talentförderung. Gucken, was da ist, und nicht, was fehlt – das wäre doch mal ein neuer Ansatz. Und nicht zuletzt eine riesige Chance für Kinder, die es ohnehin schwerer haben.


Klima, Kriege, Katastrophen – die allgemeine Weltlage geht an der jungen Generation nicht spurlos vorüber. Ihr Rat an alle Pubertiere da draußen?

Jan Weiler: Macht euch nicht zu viele Sorgen. Es gibt immer noch genug Gutes auf der Welt für euch zu entdecken.

Elisabeth Raffauf: „Gipfelstürmer brauchen ein Basislager“ hat der Bindungsforscher John Bowlby gesagt. Mein Rat geht deshalb an die Eltern: Gebt euren Kindern dieses Basislager, wo sie sich aufgehoben fühlen und wohin sie immer zurück können, selbst wenn sie Mist gebaut haben. Dann können sie auch gut in die Welt gehen und Schwierigkeiten meistern.

 

Zur Person:

Elisabeth Raffauf
geboren 1960 in Essen, ist Diplom-Psychologin mit eigener Praxis und leitet in einer Erziehungsberatungsstelle Gruppen für Eltern von Jugendlichen. Als Autorin und Expertin ist sie zudem für verschiedene Medien tätig. Für das WDR-Kinderradio hat sie die Aufklärungsreihe „Herzfunk“ mitentwickelt. Ihr aktuelles Kinderbuch „Wann ist endlich Frieden?“ wurde mit dem ITB-Book-Award ausgezeichnet und erscheint demnächst in den USA. Zum Thema „Pubertät“ hat sie „Die tun nicht nichts, die liegen da und wachsen“ geschrieben (Patmos-Verlag).

Jan Weiler
geboren 1967 in Düsseldorf, ist Journalist und Schriftsteller. Er war Chefredakteur des SZ-Magazins, bevor er mit seinem ersten Buch „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“ die Bestsellerliste stürmte. Es folgte unter anderem die vierteilige „Pubertier“-Reihe, in der er sich in fiktionalisierter Form mit dem Aufwachsen seiner beiden Kinder beschäftigt. Neben seinen Büchern verfasst Jan Weiler Kolumnen, Drehbücher, Hörspiele und Hörbücher. Im September ist sein neuester Roman „Munk“ erschienen (Heyne Verlag).


Dieser Artikel ist in Ausgabe Nr. 16 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Freiräume“ erschienen.