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„Ich habe es nie bereut.“

Text: Daniela Albat | Lesezeit: 5 Minuten
Anja Beck mit Helm.
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Anja Beck geht neue Wege: Sie hat als Erste in ihrer Familie Abitur und einen Masterabschluss gemacht. Nun promoviert sie an der größten Forschungsanlage der Welt – auf der Suche nach einer bisher unbekannten Physik.

Es ist eine Zeitreise 14 Milliarden Jahre zurück in die Vergangenheit: Im Large Hadron Collider prallen Protonen mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander. „So entstehen Elementarteilchen, die kleinsten bekannten Bausteine der Materie, wie es sie kurz nach dem Urknall gab“, erklärt Anja Beck. Nach dreijähriger Wartungspause ist der gigantische Teilchenbeschleuniger am europäischen Kernforschungszentrum Cern seit dem Sommer zurück am Netz. Intensivere Strahlen, höhere Energie und bessere Technik versprechen viel Potenzial für neue Entdeckungen. Das Ziel des Experiments: verstehen, wie das Universum funktioniert.

Anja Beck ist im Rahmen ihrer Promotion mit dabei und beobachtet das Verhalten von Teilchen namens Beauty Quarks. Sollten ihre Messungen von den Vorhersagen des sogenannten Standardmodells der Teilchenphysik abweichen, hätte sie tatsächlich eine neue Physik gefunden. Wenn die 26-Jährige von ihrer Arbeit an der „Weltmaschine“ erzählt, wirkt es manchmal so, als könne sie es rückblickend selbst kaum glauben. Und tatsächlich ist ihre Karriere – statistisch gesehen – zumindest unwahrscheinlich. Denn noch immer entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft mit über den Bildungserfolg. 79 von 100 Kindern aus Akademikerfamilien beginnen laut dem Hochschul-Bildungs-Report ein Studium. Bei Nichtakademikerfamilien sind es nur 27. Anja Beck ist eines von ihnen.

Die Stadt Genf, vor deren Toren das Cern liegt, ist 380 Kilometer Luftlinie von ihrer Heimat im Allgäu entfernt. Gefühlt aber ist die Distanz zwischen den beiden Lebensstationen viel größer. Wie die Protonen in dem 27 Kilometer langen unterirdischen Ring kollidieren hier zwei Welten. Eine akademische Karriere einzuschlagen, ist in dem Umfeld, in dem Anja Beck aufwächst, ein exotischer Lebensentwurf. „Als Kind kannte ich kaum jemanden, der studiert hat – nur meine Lehrer und Ärzte“, erzählt die Tochter eines gelernten Zimmermanns und einer Sozialwirtin. In ihrer Familie ist sie die Erste, die Abitur macht und später einen Masterabschluss an der Universität. Auch dank ihrer Mutter: „Sie ist auf die Realschule gegangen und hat zunächst eine Ausbildung absolviert“, berichtet Anja Beck. Doch die Alleinerziehende besucht auf dem Zweiten Bildungsweg die Fachhochschule und ermutigt auch die Tochter, ihren eigenen Weg zu finden.„Ich fand ein Studium früh attraktiv. Denn ich wollte weg aus dem Dorf, Neues kennenlernen“, so Anja Beck. Daran können auch Oma und Opa nichts ändern. Obwohl sie ihre Enkelin nach dem mit Einser-Schnitt gemeisterten Abitur hartnäckig auf Ausbildungsstellen hinweisen.

Fehlende Rollenvorbilder und mangelnde Unterstützung von Familie und Lehrkräften sind typische Hürden, die sogenannten Arbeiterkindern den Weg an die Universität erschweren. Die größte aber ist die Studienfinanzierung. „Oft können die Eltern nicht helfen. Oder sie scheuen sich, weil die Kosten in ihren Augen den Nutzen überwiegen“, sagt Julia Munack, Pressesprecherin bei ArbeiterKind.de. Die Organisation möchte Menschen wie Anja Beck ermuntern zu studieren. Ein wichtiger Teil der spendenfinanzierten Arbeit ist die Beratung zu praktischen Fragen.

Lohnt es sich wirklich, für ein Studium Schulden zu machen? Welcher BAföG-Satz steht mir zu? Und wie erhalte ich ein Stipendium? Gedanken wie diese beschäftigen nach dem Schulabschluss auch Anja Beck. Doch eine Anlaufstelle wie ArbeiterKind.de kennt sie damals noch nicht. Also plant sie die nächsten Schritte mit Bedacht: Das Studienfach? Muss so viel Gehalt versprechen, dass es gut zum Leben reicht. Der Studienort? Sollte günstig sein.

Heute wertet Anja Beck Daten von Quark-Zerfällen aus, damals Informationen zu Studienoptionen: Am Ende fällt die Wahl auf Physik. Und in ihrer Excel-Tabelle mit möglichen Ausbildungsstätten bleibt die Technische Universität in Dortmund übrig – die Ruhrgebietsstadt, in der man ein WG-Zimmer für 150 Euro mieten kann. „Ich habe diese Entscheidung nie bereut. Aber hätte ich damals gewusst, dass ich den BAföG-Höchstsatz erhalte oder wie einfach es sein kann, mit meinen Noten ein Stipendium zu bekommen, dann wäre ich das Ganze anders angegangen.“ Es sind auch solche Informationsdefizite, die ein Hindernis für Studierende der ersten Generation darstellen. Sie starten mit einem anderen sozialen Kapital in das Hochschulleben. Professoren ansprechen, ein Praktikum ergattern: Was ihren Kommilitonen leichtfällt, ist für Anja Beck unsicheres Terrain. Trotzdem läuft es gut: Die Studienpionierin erhält Stipendien, forscht in Frankreich und England. Ihren Master besteht sie mit Auszeichnung. Nun also arbeitet sie am Cern und gehört zu den zwei Prozent aller Arbeiterkinder, die promovieren. Das sind vier Prozentpunkte weniger als bei Akademikerkindern.

Den Weg zu ihrem Experiment kann Anja Beck nur mit Zugangsausweis passieren. Schilder warnen vor radioaktiver Strahlung. Was unter ihnen im Beschleuniger passiert? Das behalten sie und ihre Kollegen an Monitoren in einem großen Kontrollraum im Blick. „So modern, wie man es sich vielleicht vorstellt, sieht es hier oben gar nicht aus. Alles Geld fließt in die Technik“, erzählt die Physikerin. Trotzdem kann sie sich keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen: „Hier fragt niemand, wo du herkommst. Uns alle verbindet die Begeisterung für die Sache.“

Auch zu Hause springt der Funke irgendwann über: Vormals skeptische Verwandte zeigen Anerkennung – spätestens, seitdem die Lokalpresse über das Physiktalent berichtet hat. Der Bruder beginnt ebenfalls ein Studium. Um noch mehr junge Leute zu inspirieren, gründet Anja Beck eine ArbeiterKind.de-Gruppe im Allgäu. „Für viele Schüler ist der Sprung aufs Gymnasium und dann an die Universität noch viel schwieriger als für mich. Sie will ich an meiner Erfahrung teilhaben lassen – gerade als Frau mit einem MINT-Beruf“, erklärt sie.

Neben positiven Reaktionen bekommt Anja Beck aber auch Gegenwind für ihr Engagement: Eine Initiative wie ArbeiterKind.de brauche es nicht, was spreche gegen die klassische Ausbildung? „Dabei geht es nicht darum, andere Lebensentwürfe abzuwerten, sondern darum, dass jeder eine Chance bekommt, seine Talente zu entdecken.“ Als die regionale Gruppe eine Anzeige in der Zeitung schaltet, erreichen sie trotzdem empörte Zuschriften. Doch das spornt die Teilchenphysikerin nur noch mehr an. Mit Kollisionen kennt sie sich schließlich aus.