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„Schaut hin, was passiert!“

Text: Andrea Servaty | Lesezeit: 8 Minuten
Porträtfotos von Schulleiterin Silke Müller, Geschäftführer der Telekom-Stiftung Jacob Chammon und Rechtsanwältin Gesa Gräfin von Schwerin.
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Wie kompetent sind Kinder und Jugendliche, wenn es um die sozialen Medien geht? Darüber und über vieles mehr haben wir mit der Schulleiterin Silke Müller, der Rechtsanwältin Gesa Gräfin von Schwerin und unserem Geschäftsführer Jacob Chammon gesprochen.

TikTok ist einer der beliebtesten Social-Media-Kanäle bei jungen Menschen. Wer von Ihnen ist auf TikTok mit einem eigenen Account unterwegs?

Silke Müller: Ich habe einen Zugang, um dort nach Trends und Entwicklungen Ausschau zu halten. Wir wollen als Schule natürlich gern wissen, was da passiert, ob es Inhalte gibt, die problematisch werden könnten, womit die Schülerinnen und Schüler – und dann irgendwann auch wir Lehrkräfte – konfrontiert werden. Eigentlich ist das Ziel, Trends früh zu erspüren und sozusagen vor die Welle zu kommen.

Und klappt das – kommen Sie vor die Welle?

Silke Müller: Nein, leider nie. Das Netz ist global und daher einfach zu schnell.

Gesa von Schwerin: Ich habe mir mal ein TikTok-Konto angelegt, weil mein Team mir das empfohlen hatte. Ich musste dann aber meine Tochter zu Rate ziehen, weil ich nicht ganz verstanden habe, wie die Plattform funktioniert. Ich fand es zunächst ganz lustig, dann insgesamt aber zu hektisch und nichts für mich.

Sind unsere Kinder und Jugendlichen – die gemeinhin als Digital Natives bezeichnet werden – ausreichend kompetent, was den Umgang mit digitalen Medien angeht? Wenn ja, warum? Wenn nein, woran fehlt es?

Gesa von Schwerin: Meiner Meinung nach sind sie das überhaupt nicht. Sie können von oben nach unten und von links nach rechts wischen oder auch Computerspiele bedienen, aber das verstehe ich nicht unter Kompetenz. Aus meiner beruflichen Sicht gehört dazu zum Beispiel auch, dass junge Menschen die rechtlichen Aspekte im Umgang mit den Netzwerken kennen. Sie müssen wissen, dass im Internet, in den sozialen Medien eben auch Recht gilt und dass sie selbst – nicht die Eltern – belangt werden können, wenn sie Gesetze und Regeln verletzen.

Ab welchem Alter?

Gesa von Schwerin: Im Zivilrecht geht das bereits ab zehn, elf Jahren. So habe ich zum Beispiel gerade fünf Siebtklässler abgemahnt, die einen Lehrer verunglimpft hatten. Im Strafrecht ist die Altersgrenze 14 Jahre. Grundsätzlich finde ich, je älter die Kinder werden, desto mehr müssen sie lernen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Jacob Chammon: Ganz meine Meinung. Und: Die Kinder müssen verstehen, dass das Thema Verantwortung in der digitalen Welt ebenso eine Rolle spielt wie in der realen. In der Schule predigen wir ab Klasse 1, dass man wertschätzend und respektvoll miteinander umgehen muss. Die Kinder lernen, dass auch Worte verletzen können und man sich auf dem Schulhof nicht prügelt. Und natürlich sollten sie auch für das Leben mit und in den sozialen Medien mitnehmen, dass man dort nicht pöbelt, mobbt oder ausgrenzt.

Herr Chammon, Sie haben in Deutschland und Dänemark unterrichtet. Gibt es da Unterschiede in der Medienkompetenz von Schülerinnen und Schülern?

Jacob Chammon: Tatsache ist, dass die Kinder überall sehr viel und sehr lange online sind. In Deutschland vielleicht mehr während der Freizeit als in der Schule. Was mir wichtig ist: Die jungen Menschen nehmen sich selbst als kompetent wahr. Was wir Erwachsene, die hier gerade diskutieren, für Kompetenz halten, ist etwas ganz anderes. Ich bin daher dafür, dass wir Kinder und Jugendliche mitnehmen, wenn wir über Medienkompetenz reden. Wie sehen sie bestimmte Entwicklungen, welche Rolle spielen die Schule und die Familie bei diesem Thema für sie? Wir müssen sie unterstützen, damit sie sich Hilfe holen, wenn sie gemobbt werden oder Gewaltvideos geschickt bekommen. Sie müssen wissen, an wen sie sich wenden können und wie sie Informationen kritisch hinterfragen können. Gerade das kritische Denken und die Urteilskraft unterstützen wir bei der Telekom-Stiftung mit unserem Projekt Qapito.

Silke Müller: Was wir bedenken müssen, ist, dass wir Erwachsene zwischen analoger und digitaler Welt unterscheiden. Das machen Kinder und Jugendliche nicht. Für sie gibt es nur eine Welt. Sie empfinden die Kommunikation im digitalen Raum als vollkommen normal und als Teil ihrer Kinder- oder ihrer Jugendkultur. Aber ich möchte unterstreichen, was Jacob Chammon gesagt hat: Wir müssen das kritische Hinterfragen viel mehr fördern – oft machen die Erwachsenen das selbst auch nicht. Und wir müssen aufklären, zum Beispiel mit präventiven Angeboten, wie Gesa von Schwerin sie macht.

Frau von Schwerin, Sie geben Webinare an Schulen in ganz Deutschland zu Themen wie Cybermobbing und Recht am eigenen Bild. Was überrascht Sie bei diesen Terminen am meisten?

Gesa von Schwerin: Das Erstaunen und die Fassungslosigkeit vieler Erwachsener. Ich finde es unglaublich, dass es im Jahr 2023, also nach mehr als 20 Jahren Internet, immer noch Menschen gibt, die nicht wissen, was in den Netzwerken abläuft. Sie wundern sich über das Maß an Desinformation, Gewalt und Pornografie, das uns und vor allem den Kindern dort begegnet. Sie wissen zu wenig über die rechtlichen Aspekte. Ich denke dann immer, das kann und darf doch nicht sein.
 

Gib den Kindern keine Regeln, die du selbst nicht einhältst.
Jacob Chammon


Da freut man sich, dass sich das Thema Medienbildung in allen Lehrplänen findet. Das heißt, die Schulen sind gut aufgestellt, oder?

Jacob Chammon: Leider noch nicht, aber sie können Medienkompetenz auch nicht allein vermitteln. Ich weiß aus meiner Zeit als Lehrer und Schulleiter, dass es bei diesem Thema sehr hohe Erwartungen an Schule gibt. Was Schule aus meiner Sicht leisten muss, ist, einen vernünftigen, richtigen, sorgfältigen Umgang mit den neuen Medien zu vermitteln. Viele Lehrkräfte sind da gut unterwegs. Das Thema muss zugleich aber auch Aufgabe in der Familie oder in der privaten Umgebung sein. Viele Erwachsene nutzen das Handy ständig – beim Einkaufen, im Restaurant oder in anderen Situationen. Ich habe sicher auch zu viel Bildschirmzeit. Sind wir damit eigentlich gute Vorbilder für Kinder und Jugendliche? Nein, sind wir nicht. Ich sage immer: Gib den Kindern keine
Regeln, die du selbst nicht einhältst. Dazu kommt, dass wir Erwachsene oft auch nicht über genug Kompetenzen verfügen und gemeinsam mit den Kindern lernen müssen. Als ich nach Deutschland kam, gab es diese Spots vor den Nachrichten mit dem Titel „Schau hin“. Das fand ich toll und für mich ist das immer noch ein Mantra. Schaut hin, was da passiert. Setzt euch hin und macht Onlinespiele gemeinsam oder seht zusammen TikTok-Videos an. Redet darüber, auch zu Hause. Schule kann und soll das Thema nicht allein angehen.

Silke Müller: Ich bin derselben Meinung. Die Schule kann begleiten, Kompetenzen vermitteln und hat natürlich einen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Aber aus meiner Sicht müssen sich Eltern schon mit dem Thema Medien befassen, bevor Kinder in die Schule kommen. Schon von klein an erleben die Kinder die Erwachsenen mit dem Handy, mit Computerspielen, mit allem drum und dran. Und die Erwachsenen geben ihnen Handys und Tablets in die Hand. Das führt aus meiner Sicht häufig zu einer gefährlichen Beziehungslosigkeit, wenn Menschen eher auf Displays schauen als sich gegenseitig ins Gesicht. Das verhindert, dass das Kind menschliche Beziehungen lernt – Fürsorge ebenso wie Auseinandersetzungen. Es ist ein eher fürchterliches Bild, wenn Eltern vormachen, wie schön es ist, immer am Handy zu sitzen. Ich halte das für eine Art von Kindeswohlgefährdung. Eltern müssen verstehen, dass sie beim Thema digitale Medien eine große Verantwortung haben, aber auch großen Schaden anrichten können.

Das Internet und die sozialen Medien sind für alle zugänglich, auch für junge Menschen, die besonders schützenswert sind, weil sie zum Beispiel Einschränkungen haben …

Gesa von Schwerin: Das ist richtig und es ist wichtig, dass wir auch an diese Gruppe denken. Ich habe viele Anfragen dazu. Wir haben eine Lernplattform entwickelt, die unsere Inhalte rund um die Uhr bereitstellt. Ich bin gerade dabei, diese Angebote auch in Leichter Sprache und mit Gebärdendolmetschern bereitzustellen. Das alles ist eine enorme Herausforderung und wir machen das praktisch ohne Unterstützung der Verantwortlichen aus der Politik.

Was meinen Sie damit genau?

Gesa von Schwerin: Die Schulen und die Lehrkräfte brauchen Partner und sind auch dankbar und offen für unser Engagement. Was fehlt, ist die Unterstützung der Politik für diese Zusammenarbeit. Außer Rheinland-Pfalz lässt sich meines Wissens kein Land in die Verantwortung nehmen, für mehr Prävention zu sorgen. Und das bringt mich mittlerweile wirklich auf die Barrikaden. Es gab einen Beschluss der Justizministerkonferenz im November 2022. Demnach muss es mehr Aufklärung in Schulen geben zu den rechtlichen Grundlagen rund um die Nutzung der sozialen Medien. Ich habe die Justizminister- und auch die Kultusministerkonferenz angeschrieben und angeboten, unser Programm vorzustellen, damit das Rad nicht neu erfunden wird. Passiert ist gar nichts, ich habe nur nichtssagende Antworten erhalten. Das macht den Eindruck, als sei es der Politik völlig egal, was mit den Kindern passiert.

Jacob Chammon: Was mir in Deutschland oft auffällt, ist die Tatsache, dass die Politik oder wir alle zunächst immer nach der Rechtssicherheit fragen oder sie gewährleisten wollen, bevor wir ein Problem angehen. Das verhindert aus meiner Sicht, dass wir in wichtigen Themen schneller vorankommen.

Silke Müller: In Sachen Politik bin ich der Auffassung, dass wir hier auf eine strengere Gesetzgebung für die Social-Media-Nutzung hinwirken müssen. Nur Absichtserklärungen und Empfehlungen helfen nicht, es muss ganz, ganz klare Leitplanken für das Handeln im Netz geben, damit sich etwas zum Positiven verändert.

Letzte Frage: Was hat aus Ihrer Sicht Priorität, wenn es um bessere Medienkompetenz und mehr Schutz für junge Menschen geht?

Gesa von Schwerin: Wir müssen Netzwerke bilden, am besten bundesweit. Netzwerke, die gemeinsam an diesem Thema arbeiten, die nicht an irgendwelchen Befindlichkeiten kleben und delegieren. Hier auch Kinder und Jugendliche im Sinne von Peer-Learning einzubinden, halte ich für unbedingt nötig.

Silke Müller: Ich wünsche mir, dass wir Bildungspolitik nicht mehr föderal betrachten. Das ist fahrlässig. Es kann nicht sein, dass wir in Niedersachsen Themen anders angehen als in Bayern. Unter dem Einfluss sozialer Netzwerke sterben inzwischen Kinder. Da muss es doch einen Aufschrei geben. Außer Schlagzeilen für ein, zwei Wochen hat das aber keine Folgen. Das macht mir große Sorgen, was die Zukunft dieser Generation angeht.

Jacob Chammon: Für mich ist die Aufklärung entscheidend. Und zwar die Aufklärung nicht nur der Kinder und Jugendlichen, sondern auch der Erwachsenen – Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel. Jeder kann dazu beitragen, dass das Internet ein sicherer Ort für Kinder und Jugendliche wird und sie lernen, sich souverän im Netz zu bewegen.


Das Interview ist in Ausgabe Nr. 14 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Medienkompetenz“ erschienen.