Ein neues Arbeitszeitmodell
Der ehemalige Berliner Staatssekretär für Bildung Mark Rackles hat für die Telekom-Stiftung eine Expertise zur Arbeitszeit von Lehrkräften in Deutschland erstellt. Im Interview erläutert er seine zentralen Veränderungsvorschläge.
Herr Rackles, das deutsche Deputatsmodell, also die alleinige Festlegung der zu leistenden Unterrichtsstunden, fördert Mehrarbeit, geht ineffizient mit der Arbeitszeit der Lehrkräfte um, ist ungerecht und unflexibel. Diese Probleme sind hinlänglich bekannt, bis heute aber ohne Konsequenzen geblieben. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Das deutsche Bildungssystem ist in Gänze ausgesprochen träge und strukturkonservativ. Das Arbeitszeitmodell der Lehrkräfte in Deutschland ist über 150 Jahre im Kern unverändert. Seitens der Länder als Arbeitgeber besteht wenig Interesse an Veränderungen, da das System im erheblichen Umfang unbezahlte Überstunden unter dem Label „Vertrauensarbeitszeit“ versteckt.
Sie nennen vier Faktoren, die Veränderungsdruck erzeugen: der dringend gebotene bessere Gesundheitsschutz für Lehrkräfte, eng damit verbunden die gesetzlichen Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung, neue pädagogische Anforderungen, aber auch Möglichkeiten, und – last but not least – der akute Lehrkräftemangel. Welchen dieser Faktoren trauen Sie die größte Kraft zu, dass sich etwas tut, und warum?
Diese Faktoren sind nicht gleichgerichtet: So erhöht der akute Mangel an Lehrkräften den Druck auf eine Aufstockung der Deputatsstunden, als dem dienstlich fixierten Teil der Arbeitszeit. Neue pädagogische Konzepte und auch der Gesundheitsschutz erfordern dagegen eher Entlastung im Bereich der unmittelbaren Unterrichtsstunden und mehr Zeit im außerunterrichtlichen Bereich, etwa für Teamarbeit und professionelle Lerngemeinschaften. Der größte Druck wird meines Erachtens jedoch die neue und sehr klare arbeitsgerichtliche Rechtsprechung entwickeln, die auf eine Arbeitszeiterfassung auch in Schule hinausläuft.
Im OECD-Vergleich arbeiten die deutschen Lehrkräfte insgesamt mehr, kommen aber weniger zum Unterrichten. Was machen andere Länder besser?
Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Lehrkräfte in Deutschland offensichtlich mit vielen nicht-pädagogischen Aufgaben betraut sind, die die allgemeine Arbeitszeit (und den Arbeitsdruck) erhöhen, der unmittelbaren pädagogischen Arbeit jedoch nicht zugutekommen. Wenn man das pädagogische Arbeitsvolumen erhöhen will, dann sollte man daher nicht an einer – kaum mehr vermittelbaren – Arbeitszeiterhöhung ansetzen, sondern an einer Entlastung der eher teuren Lehrkräftearbeitszeit etwa in den Bereichen IT, Verwaltung oder Aufsichten.
Glaubwürdig verminderter Druck würde das Berufsfeld attraktiver machen.
Mark Rackles
Ihr Vorschlag für ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte nimmt statt des wöchentlichen Unterrichtsdeputats die gesamte Jahresarbeitszeit zur Grundlage. Was sind für Sie die zentralen Knackpunkte an Ihrem Modell, die das System zukünftig auf gute Füße stellen können?
Ein zukunftsfähiges Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte muss sich erstens von der Verengung auf die sogenannten Deputats- oder Pflichtstunden lösen und die gesamte Arbeitszeit erfassen. Aus Gründen des Arbeitsschutzes und der neusten Rechtsprechung muss zweitens diese Arbeitszeit künftig erfasst werden. Drittens sollte eine Differenzierung der Arbeitszeiten nicht wie bisher nach Schularten, sondern nach Schulstufen erfolgen, dies betrifft insbesondere die sogenannten Korrekturfächer. Viertens sollten vier Tätigkeitscluster gebildet und mit zeitlichen Richtwerten versehen werden. Und fünftens sollten die Schulen die errechnete Personalressource als sogenannte Globalzuweisung erhalten und dezentral verantworten. Wie in Dänemark erfolgt sechstens die arbeitsrechtliche Vereinbarung der Arbeitszeiten und Arbeitsinhalte auf schulischer Ebene, hierzu werden die Schulen eine neue Funktionsstelle für das Personal- und Zeitmanagement in der Schulleitung benötigen.
Welche Chancen messen Sie Ihrem neuen Arbeitszeitmodell bei, Teilzeit-Lehrkräfte davon zu überzeugen, mehr zu arbeiten? Unter welchen Bedingungen könnte dies gelingen? Und wieviel Potenzial an zusätzlichen Unterrichtsstunden hätte das in etwa?
Im Gegensatz zu Ansätzen, die mit Zwang das Teilzeitverhalten von Beschäftigten beeinflussen wollen, halte ich die Erhöhung der Attraktivität des Berufsfeldes durch mehr Transparenz in der Arbeit und mehr Entlastung beziehungsweise Ausgleich bei nachgewiesenen Überstunden für den überzeugenderen Weg. Wirklich seriös lässt sich das Potenzial kaum bestimmen, da das Teilzeitverhalten von vielen Faktoren abhängt. Ich persönlich gehe aber davon aus, dass sich der Mehrbedarf an Lehrkräften, der sich aus dem notwendigen Ausgleich bislang unbezahlter Überstunden im bestehenden System ergeben wird, in einem Umfang von 20.000 bis 30.000 Vollzeitstellen ausgeglichen werden könnte, wenn ein relevanter Teil der Beschäftigten bei glaubwürdig vermindertem Druck wieder in eine Vollzeitstelle wechseln würden.
Die gesamte Expertise und druckfähige Grafiken dazu stehen kostenlos zur Verfügung unter:
www.telekom-stiftung.de/rackles-expertise.