Kreativraum der Bildung
Warum die Ideen deutscher EdTech-Pioniere dringend gebraucht werden.
„Hi, ich bin Lena und ich habe Scobees mitgebaut.“ So stellt sich Gründerin Lena Spak (Foto rechts) an diesem Morgen an der Richtsberg Gesamtschule in Marburg einer kleinen Schülergruppe vor. Die Zehnjährigen sitzen auf einem blauen Sofa mit einer außergewöhnlich hohen Rücken lehne, die als Schallschutz dient. Der ist nötig, denn das Sofa befindet sich in einer weitläufigen Lernlandschaft, in der gerade Dutzende Sekundarschüler in kleinen Gruppen selbstorganisiert lernen. Lena Spak möchte von den Kindern wissen, wie sie mit der Lernplattform Scobees zurechtkommen. Eine Schülerin kommt allerdings erst mal auf Spaks Begrüßung zurück und fragt verdutzt: „Wie, ihr habt das gebaut – das kann man bauen?“
Bis zu diesem Moment war Scobees für die Schülerin etwas, das auf dem Tablet-PC einfach da ist, wenn sie damit lernen will. Jetzt, nachdem Lena Spak es ihr erklärt hat, sitzt das Mädchen mit großen Augen da, hinter denen es klick gemacht hat. Für Spak ist es berührend, das zu sehen. Die Juristin gehört zu den wenigen deutschen Unternehmern für EdTech – eine Wortschöpfung aus Education und Technology. Der Begriff fasst laut dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ein breites Spektrum innovativer Produkte und Dienstleistungen zusammen, die mit der digitalen Welt verknüpft sind und beim Lernen und Lehren helfen sollen: Nachhilfe-Apps oder programmierbare Spielroboter gehören genauso dazu wie Software für das Lernmanagement an Schulen, Virtual-Reality-Anwendungen für den Hörsaal, passgenaue E-Learning-Plattformen für einzelne Berufsgruppen oder Computerspiel-Inhalte für Mitarbeiterschulungen. Ein weites Feld.
Vorangetrieben werden solche Innovationen vor allem von Startups. Die Gründer wollen dabei nicht selten die althergebrachte Lernwelt mithilfe moderner Technologien auf den Kopf stellen, Bildungswege revolutionieren, Lehrinhalte auf die Zukunft ausrichten und Bildungszugänge gerechter gestalten – für Kinder wie Erwachsene. Viele nehmen diese Mission sehr ernst. Vor allem die, die sich bis ins föderale deutsche Schulsystem vorwagen.
So wie Lena Spak, die mit Annie Dörfle in Köln das Startup Scobees gegründet hat. Das gleichnamige cloudbasierte Lernsystem entwickelten sie gemeinsam mit Partnerschulen, die sich größtenteils in Brennpunktvierteln befinden und Schüler aus bis zu 40 Nationen unterrichten. Die Richtsberg Gesamtschule in Marburg zählt dazu. „Bei uns gibt es den klassischen Unterricht nicht mehr“, sagt Lena Spak. Schüler können mit Scobees selbstbestimmt lernen und jeden Tag neu entscheiden, welches Fach und welche Übungen sie angehen. Lehrkräfte begleiten sie dabei als Coaches. Das habe einen großen Effekt, berichtet die Gründerin weiter: „Der intensive persönliche Zuspruch nimmt den Kindern viele Ängste und beflügelt sie, sich mehr zuzutrauen.“ Rund 400 Schulen testen die Lernsoftware bereits in der Praxis. Lena Spak nennt sie Zukunftsschulen: „Pioniere zu finden, die mitmachen wollen, war bislang nicht das Problem.“ Es fehle aber die Masse, die für Scobees auch bezahlen könne, bemerkt die Gründerin. Schulleitungen haben hierzulande nur ein geringes Budget, über das sie selbst verfügen dürfen, und wenig Entscheidungsfreiheit, welche Unterrichtsmaterialien und Lernmittel sie anschaffen – das bestimmen meist Politik und Verwaltung.
„Bei uns gibt es den klassischen Unterricht nicht mehr.“
Es sind Erfahrungen, die Max Maendler teilt. Er ist Business Angel in Berlin und versorgt als solcher unter anderem das Startup simpleclub mit Investitionen und Gründerwissen. Bildungstechnologie und Schulalltag – das sei immer noch eine teils skurrile Kombination, berichtet Maendler: Fast alle Lehrkräfte nutzten inzwischen EdTech-Anwendungen – allerdings nicht in der Schule, sondern privat, wenn sie den Unterricht zu Hause vorbereiteten. Max Maendler hat hier gute Einblicke dank eduki, einer digitalen Austauschplattform für Unterrichtsmaterialien, die er gegründet hat. 80 Prozent der Lehrkräfte in Deutschland sind dort angemeldet.
Seit Corona tue sich zwar in Deutschland endlich auch im offiziellen Schulbetrieb etwas, sagt der Investor. Insgesamt gehe es ihm aber viel zu langsam voran. Er sieht dafür folgenden Grund: „Schulträgern und Kultusministerien fehlt oft der Mut, um von großen externen Bildungsakteuren wie etwa den Schulbuchverlagen auch mal abzurücken und stattdessen auf die kleineren, meist viel innovativeren Startups zuzugehen.“ Für Max Maendler sind es verpasste Chancen, gerade mit Blick auf die Kinder. Er findet klare Worte: „Wir müssen unsere Schulen grundlegend umkrempeln. Diese Druckbetankung mit Wissen ist aus dem letzten Jahrhundert – das muss aufhören.“ Stattdessen sollten die Schulen Kompetenzen fördern, die die Menschen für das jetzige Jahrhundert benötigten, zum Beispiel Kreativität, Mut, Selbstwirksamkeit, Kollaboration und auch eine positive Haltung gegenüber dem Scheitern. Damit es vorwärts geht, stieß Maendler vor zwei Jahren die Hackathon-Initiative „Wir für Schule“ mit an. Sie soll Tempo und Innovationskraft in den Strukturwandelprozess der Schulen bringen. Die Zeit drängt.
Anderswo auf der Welt geht es jedenfalls weit schneller voran. Die größten Finanzierungsrunden habe es in den vergangenen Jahren für EdTechs aus China und Indien gegeben, aber auch aus den USA, berichtet Anna Iarotska. Die gebürtige Ukrainerin hat mit ihrem Team das Wiener Startup Robo Wunderkind gegründet, das schon Grundschulkinder mithilfe eines Lern und Spielroboters an Technologie heranführt, und hierfür mehrere Auszeichnungen erhalten.
Zwar gebe es auch im deutschsprachigen Raum vereinzelte Erfolge wie GoStudent – ein Nachhilfeportal aus Österreich, das in den letzten beiden Jahren insgesamt mehr als 590 Millionen Euro Kapital einsammeln konnte und jetzt mit drei Milliarden Euro bewertet wird. Insgesamt stehe die Region aber nicht gut da, sagt die Gründerin: „Wenn man die EdTech-Szene in Deutschland oder Österreich mit der in den USA oder auch Großbritannien vergleicht, befinden wir uns sozusagen noch in der frühkindlichen Entwicklungsphase.“
Schaut man auf die nackten Zahlen, zeigt sich hierzulande immerhin ein positiver Trend: Nach Berechnungen des Risikokapitalgebers Brighteye Ventures flossen 2021 insgesamt 297 Millionen US-Dollar in den deutschen EdTech-Sektor – ein Jahr zuvor waren es erst 67 Millionen gewesen. Vor allem Startups mit Geschäftsideen für die unternehmerische Weiterbildung oder das lebenslange Lernen profitieren von diesem Trend. Der Grund: Beide Bereiche sind leicht zugänglich, weil sie, anders als Schule, weitestgehend unreguliert sind. Anna Iarotska fesselt dagegen weiter die Schulwelt. Sie hat für Robo Wunderkind bereits eine Lösung gefunden: den US-Markt. „Dort haben Schulen viel mehr Freiheit, selber zu entscheiden, welche Lehrmittel sie einsetzen.“ Gleichzeitig hofft sie, dass ihre Erfindung auch in MINT-Schulprogramme im deutschsprachigen Raum aufgenommen wird.
Die Gründerin hat lange über die Scheu vieler Kinder vor den MINT-Fächern nachgedacht: „Die Schulen schaffen es bislang nicht, den Schülern zu vermitteln, wie spannend Technologie ist und wie kreativ sie sich damit ausdrücken können“, so ihre Erkenntnis, die sie auf die Idee für ihren Lern und Spielroboter brachte. Der lässt sich aus fünf Zentimeter großen Würfeln leicht zusammenbauen und über eine App auf dem Tablet programmieren, sodass er zum Beispiel die Stoffkatze mit der Haarbürste massiert oder Baumstämme aus Knete sägt. Solche Erfolgserlebnisse beförderten dann schnell weitere Ideen und machten Lust auf Programmierversuche.
Noch erreichen Bildungsinnovationen wie Robo Wunderkind erst wenige Kinder. Es sind die Schulleiter mit Pioniergeist, die diese wertvollen neuen Lernutensilien ins Klassenzimmer holen. Sie sind Widerstände im Schulalltag gewohnt und wissen, welche Kraft im Credo „einfach machen“ steckt – irgendwann findet sich dann schon ein Weg.