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Jetzt aber!

Text: Klaus Rathje | Lesezeit: 9 Minuten
Illustration mit Schülerinnen und Schülern
©

Was muss in der Bildung besser werden? Wir haben Expertinnen und Experten gefragt, welche Maßnahmen sie für sinnvoll halten.

Thomas de Maizière

Stiftungsvorsitzender

„Der letzte Versuch, unser Bildungssystem leistungsfähiger zu machen, war, als Angela Merkel 2008 die ,Bildungs­­re­publik Deutschland‘ ausgerufen hat. Ich war zu der Zeit Chef des Bundeskanzleramts und habe den Gipfel, der wenig später alle relevanten Akteure aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an einen Tisch gebracht hat, mit vorbereitet. Sind wir seitdem zur Bildungsrepublik geworden? Leider nein. Fragt man mich nach den Gründen, fällt mir zuallererst das föderale Zuständigkeitsgerangel zwischen Bund und Ländern ein – ein echter Hemmschuh für Veränderungen. Doch auf eine große Föderalismusreform können wir nicht warten; zum Glück sind auch mit dem gegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen schon viele Verbesserungen möglich. So könnten wir zum Beispiel den Schulen mehr Personalverantwortung geben und sie von vielen unnötigen Vorschriften befreien. Auch das Arbeitszeitmodell der Lehrkräfte, das seit mehr als 150 Jahren fast unverändert gilt, müsste dringend modernisiert werden. Worauf also warten? Wenn es um die Bildung unserer Kinder geht, dürfen wir keine Zeit verlieren!“

Der ehemalige Bundesminister Dr. Thomas de Maizière ist heute Vorsitzender der Deutsche Telekom Stiftung.


Petra Stanat

Bildungsforscherin

„Der IQB-Bildungstrend 2021 hat gezeigt, dass in Deutschland etwa 20 Prozent der Viertklässler in den Fächern Deutsch und Mathematik nicht die Mindeststandards erreichen. Im Bereich Lesen sind sie beispielsweise nicht in der Lage, anhand eines einfachen Fahrplans festzustellen, wann der nächste Bus kommt. Schülerinnen und Schüler, die solche Kompetenzen nicht erwerben, laufen Gefahr, abgehängt zu werden. Dies können wir den Kindern gegenüber nicht verantworten und uns auch als Gesellschaft nicht leisten. Daher müssen alle Akteurinnen und Akteure im Bildungssystem dafür Sorge tragen, dass die Förderung zukünftig besser gelingt. Sie muss im Elementarbereich beginnen, dessen Förderpotenzial noch nicht ausgeschöpft wird. Und im Schulbereich müssen wir die Lernentwicklung systematischer beobachten, um bei sich abzeichnenden Problemen gezielter reagieren zu können. Datengestützte Qualitätsentwicklung sollte ein selbstverständ­licher Bestandteil des Professionsverständnisses im Bildungsbereich sein.“

Professorin Petra Stanat ist seit 2010 Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat Psychologie an der Freien Universität Berlin studiert.


Volker Rohde

Sozialarbeiter

„Viele prägende Jugenderlebnisse finden außerhalb der Schule statt. Alltagslernen kann teilweise mehr bewirken als der klassische Unterricht – das wird gern unterschätzt. Insofern ist es wichtig, die non-formale Bildung zu intensivieren. Laut Bundesstatistik erreichen wir etwa zehn Prozent aller Jugendlichen in Deutschland mit offener Kinder- und Jugendarbeit. Häufig werden Jugendeinrichtungen allerdings mit sehr geringen Mitteln ausgestattet. Trotzdem wird erwartet, dass möglichst viele junge Menschen dieses Angebot wahrnehmen. Hierbei steht insbesondere die personelle Ausstattung in einem krassen Missverhältnis zu der Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die im Einzugsbereich leben. Notwendig wäre ein Paradigmenwechsel, bei dem es beispielsweise ähnlich wie im Kitabereich einen festgelegten Schlüssel von Personal zu Besuchenden gibt. Für die Entwicklung junger Menschen und unserer Gesellschaft ist es wichtig, stärker in Orte  zu investieren, an denen Kinder und Jugendliche ihre Zeit selbst gestalten und sie so zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung befähigt werden. Als milieuübergreifende Begegnungsorte tragen Jugendeinrichtungen hierzu bei. Sie fördern zudem durch die Umsetzung demokratischer Prozesse und politischer Bildung wesentlich den Zusammenhalt der Gesellschaft.“

Volker Rohde ist Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendeinrichtungen (BAG OKJE). Davor arbeitete er als Stadtjugendpfleger und leitete den Bereich Kinder- und Jugendarbeit der Stadt Hannover. 


Aladin El-Mafaalani

Soziologe, Pädagoge und Migrationsforscher

„Mit Blick auf die soziale Herkunft und den Bildungserfolg müssen wir Ungerechtigkeiten be­seitigen. Kinder unterer Schichten benötigen ­dringend stärkere Unterstützung, denn: Ein zen­trales gesellschaftliches Problem ist der hohe Anteil an kompetenzschwachen Kindern und Jugendlichen – mit und ohne Migrationshintergrund. Ein anderes Problem ist der vergleichsweise geringe Anteil besonders kompetenzstarker Kinder und Jugendlicher. Daher müssen wir hierzulande die Begabtenförderung in der Breite und die Exzellenzförderung für außergewöhnliche Spitzenleistungen stärker ausbauen. Auch hier gilt: Kinder und Jugendliche aus unteren Schichten sind viel zu selten im oberen Kompetenzbereich und werden nach wie vor zu selten in der Begabtenförderung berücksichtigt. Die Förderung von benachteiligten Kindern ist also in jedem Bereich von zentraler Relevanz.“

Professor Aladin El-Mafaalani ist Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Zudem ist er Mitglied im Bundesjugendkuratorium, dem zentralen Sachverständigengremium der Bundes­regierung.

Martina Diedrich 

Bildungsforscherin

„In Hamburg machen wir nicht nur Lernstandsmessungen in den Klassen 3 und 8, wie von der Kultusministerkonferenz vorgegeben, sondern auch in den Jahrgängen 2, 5, 7 und 9. Hinzu kommt das Viereinhalbjährigen-Vorstellungsverfahren. Das ist insofern extrem wichtig, als wir hierüber die Kinder identifizieren, die besonderen Sprachförderbedarf haben. Mit unserem Datenschatz können wir Lernentwicklungen abbilden und genau sehen, welche Schwierigkeiten bei Schülerinnen und Schülern auftreten – und wann. Die Politik gewinnt damit eine wichtige Steuerungsebene, denn für alle Ergebnisse, die wir präsentieren, gibt es Folgeprozesse mit konkreten Maßnahmen. Das kommt dann gerade den schwächeren Kindern und Jugendlichen zugute, denn Lehrkräfte können durch unsere Daten besser verstehen, wo Probleme liegen und welche konkrete Unterstützung sie brauchen. Insgesamt lässt sich so die Bildungsqualität auf allen Ebenen steigern..“

Dr. Martina Diedrich leitet das Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) Hamburg. Sie studierte Psychologie in Gießen und Mannheim und promovierte im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt.


Anja Störmann

Lehramtsstudentin

„Wir brauchen in der Lehrkräfteausbildung mehr Praxisbezug. Im Bachelorstudium gibt es zwar Unter­richts­praktika, die aber leider nur zwei Wochenstunden umfassen. Fachlich werden wir gut aufs Unterrichten vorbereitet, aber die Bereiche Erziehen, Beurteilen und Innovieren, in denen Lehrkräfte laut der Kultusministerkonferenz kompetent sein müssen, finde ich im Studium nicht wieder. Ich halte es für wichtig, Themen wie Fachdidaktik, pädagogische Haltung und Gesprächsführung mehr in den Blick zu nehmen. Als Lehrkraft muss ich später ja viel mehr tun als nur Stoff vermitteln. So muss ich zum Beispiel auch wissen, wie ich dazu beitragen kann, dass meine Schülerinnen und Schüler psychisch gesund bleiben. Insgesamt müsste es bei der Lehrkräfteausbildung viel mehr um Reflexionskompetenzen gehen. Im Grunde ist das Studiensystem mit Vorlesungen nicht mehr zeitgemäß, denn es ist letztlich nichts anderes als Frontalunterricht. Ein erster Schritt wäre, Studierenden mehr Verantwortung für das eigene Lernen zu geben. Und Freiräume zu schaffen, damit sie sich in diesen Kompetenzen bilden können und dafür dann auch Leistungspunkte bekommen.“

Anja Störmann studiert an der Universität Potsdam Spanisch und Geografie auf Lehramt und plant, im kommenden Jahr ins Referendariat zu gehen. Daneben engagiert sie sich bei Kreidestaub e. V. Die seit 2013 bestehende studentische Initiative setzt sich dafür ein, die Lehrkräfteausbildung zu verbessern.


Jörg Dittrich

Verbandspräsident

„Wir brauchen eine Bildungswende! Wir müssen zu einer gleichwertigen Behandlung und Förderung von beruflicher und akademischer Bildung nach dem Abitur kommen. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften im Handwerk – uns fehlen aktuell 250.000 – wird etwa im Energiebereich weiter steigen. Politik muss mit dazu beitragen, dass junge Menschen die Qualifizierungs­wege der beruflichen Bildung stärker als bisher als gleichwertigen Ausbildungs- und Berufsweg wahr­nehmen. Eine Berufsorientierung, die an allen Schulen – auch an Gymnasien – immer auch über die beruf­liche Bildung informiert, ist dabei ein entscheidender Hebel, dem Nachwuchsmangel entgegenzuwirken. Nur wenn Schülerinnen und Schüler die Chancen kennen, werden sie einen handwerklichen Beruf für sich in Erwägung ziehen. Dafür aber müssen sie von der ganzen Bandbreite an zukunftssicheren Berufen im Handwerk und den dortigen Karrierewegen erfahren. Ein wichtiges Projekt ist unser Portal „Handwerk macht Schule“. Mit von uns bereitgestellten Lehr- und Lernmaterialien können Lehrkräfte im Unterricht alltagsnahen Fragen zu Themen des Handwerks nachgehen und so dazu beitragen, die Faszination für das Handwerk zu wecken.“ 

Jörg Dittrich ist seit Januar 2023 ­Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Mit 28 Jahren übernahm er die Baufirma seiner Familie in vierter Generation. Seit zehn Jahren engagiert sich der Dach­deckermeister und Hochbau-Ingenieur bereits im Bereich der Handwerkspolitik.


Astrid-Sabine Busse

Bildungspolitikerin

„Die zunehmende Heterogenität an unseren Schulen stellt unweigerlich neue Aufgaben und Anforderungen an unsere Lehrkräfte. Sie müssen in immer stärkerem Maße verschiedenste Bedürfnisse und Interessen sowie kulturelle und sprachliche Hintergründe im Blick behalten. Hinzu kommen die Auswirkungen von Krisen wie der Corona-Pandemie oder dem russischen Angriffskrieg auf die ­Ukraine, welche unmittelbar das Lernen und den Unterricht an unseren Schulen beeinflussen. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen ist die Unterstützung der Lehrkräfte durch multiprofessionelle Teams sehr hilfreich. So bringt ein multiprofessionelles Team – das etwa aus Logopäden, Ergo- und Lerntherapeuten, Kinderkrankenschwestern oder Psychologen bestehen könnte – unterschiedliche Perspektiven in die gemeinsame Arbeit ein und kann durch regelmäßige Absprachen, eine gemeinsame Planung und konstruktives Feedback auch anspruchsvolle Aufgaben lösen und gut auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen.“

Astrid-Sabine Busse war Senatorin für Bildung, Jugend und Familie in der Berliner Landesregierung und zuletzt auch Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Bis zu ihrem Einstieg in die Bildungspolitik im Jahr 2021 leitete sie eine Berliner Grundschule.


Lukas Pohland

Abiturient

„Im Alter von zwölf Jahren war ich selbst von Cyber­mobbing betroffen. Es kamen Beleidigungen auf digitalen Kanälen, meine Adresse wurde im Netz veröffentlicht – das ging bis hin zu Morddrohungen durch Gleichaltrige. Nachdem ich erfahren habe, wie hilflos man sich in solch einer Situation fühlen kann, war mir klar, dass ich mich in diesem Bereich engagieren möchte. In den Niederlanden ist Cyber­mobbing-Prävention ein verpflichtender Bestandteil des Unterrichts – dort sind die Fallzahlen rückläufig. Das bräuchte es in Deutschland auch. Die Lehrkräfte sollten entsprechend geschult werden, um spezielle Präventions­angebote im Unterricht machen zu können. Das muss auch schon relativ früh beginnen. Natürlich muss Mobbing beziehungsweise Cybermobbing an der Grundschule anders thematisiert werden als an weiterführenden Schulen, aber wenn man früh die Empathie schult, hat das einen riesigen Effekt. Schulen müssen dafür sorgen, dass keiner zum Täter wird. Und wenn doch etwas passiert, braucht es dort Anlaufstellen, damit Mobbingopfer Hilfe erhalten.“

Lukas Pohland gründete mit 14 Jahren die Cybermobbing-Hilfe e. V. in Schwerte. Nach seinem Abitur im Sommer 2023 möchte er sich in Vollzeit um seinen Verein kümmern, der auch Präventionsprogramme für Schulen anbietet.


Barbara Pampe

Architektin

„Der Schulbau in Deutschland benötigt dringend Innovationen, damit die Architektur von Schulen die aktuellen und zukünftigen Anforderungen in der Bildung unterstützen kann. Das alte Muster der „Klassenraum-Flur-Schule“ ist die räumliche Entsprechung eines einzigen Lehr- und Lernsettings, des Frontalunterrichts, und heute nicht mehr zeitgemäß. Wenn wir Schulen und ihre Planung neu denken, bauen wir sie auch anders. Häuser mit unterschiedlichen Atmosphären für vielfältige Lern- und Lehrangebote, mit Räumen für Austausch und Begegnung, Erholung, Bewegung, Konzentration. Mit Räumen, die inspirieren, die dem stetigen Wandel standhalten, die wertig sind und zum Lernen und Forschen anregen. Schulgebäude bilden die Infrastruktur für die Bildung heute und in Zukunft. Davon profitieren nicht nur Kinder und Jugendliche, Pädagoginnen und Pädagogen, sondern ganze Stadtviertel, Kommunen, Regionen und jeder Standort in Deutschland. Es ist Zeit, jetzt in gute Bildung zu investieren – eine neue Planungs- und Baukultur im Schulbau gehört dazu!“

Barbara Pampe ist gemeinsam mit Dr. Meike Kricke Vorständin der Bonner Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, die sich in den Bereichen der pädagogischen Architektur, der inklusiven ganztägigen Bildung und der Bildung im digitalen Wandel engagiert. Die Architektin dozierte an der Universität Stuttgart sowie der German University in Cairo (GUC).

Nicht nur die Protagonisten, die hier zu Wort kommen, wünschen sich Veränderungen: Im März hat ein breiter Kreis aus über 50 Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften einen Appell an die Politik gerichtet. Darin fordern sie den Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder auf, endlich einen grundlegenden Reformprozess im Bildungswesen einzuleiten. Die Telekom-Stiftung zählt zu den sechs Initiatoren des Appells.

Der Artikel ist in Ausgabe Nr. 13 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Bildungssteuerung“ erschienen.