„Eine große Aufgabe“
Außerschulische Lernorte leisten wichtige digitale Bildungsarbeit. Wie klappt es? Wir haben mit drei Vertretern der Szene gesprochen.
Corona hat vieles verändert. Auch die digitale Bildungsarbeit im Jugendzentrum, Herr Bücker?
Jonas Bücker: Wir haben bereits vor der Pandemie einen starken Fokus auf digitale Medienarbeit gelegt. Dabei ging es viel darum, mit jungen Menschen gemeinsam etwas zu gestalten – sei es im Tonstudio oder in der Schneidewerkstatt. Während Corona hat sich das gewandelt. Auf einmal konnten wir nicht mehr im direkten Kontakt mit den Jugendlichen arbeiten. Wir haben versucht, das zu kompensieren, indem wir stark auf Interaktion gesetzt haben: Zum Beispiel haben wir zusammen online gespielt oder digital Graffitis skizziert.
Ronny Lehmann: Auch bei uns in der Stadtbibliothek Gotha gab es schon vor Corona eine Vielzahl von Angeboten rund ums Digitale – von der OnLeihe, über die man digitale Bücher ausleihen kann, bis hin zur Cybermobbing-Prävention, die wir für Schulklassen veranstalten. Dennoch haben sich einige Bereiche durch die Pandemie noch mal stärker digitalisiert.
Bei den Museen hat sich in dieser Zeit ebenfalls etwas getan, Frau Ghellal.
Sabiha Ghellal: Genau. Dadurch, dass sie geschlossen waren, mussten sich die Museen Gedanken über alternative Zugänge machen. Viele haben das auch erfolgreich getan: Da gab es virtuelle Führungen, spannende Videos – oder Spiele-Apps wie NatureWorld.
NatureWorld?
Sabiha Ghellal: Das ist eine Smartphone-App des Naturkundemuseums Stuttgart, die vom Land Baden-Württemberg im Rahmen des Programms „Digitale Wege ins Museum“ gefördert wurde: Kinder können mit der App eine Entdeckungsreise durchs Museum und den angrenzenden Rosensteinpark unternehmen. Dabei gibt es Elemente, die vor, während und nach dem Museumsbesuch spielbar sind – in Corona-Zeiten war das natürlich ein Gewinn. Wir von der Hochschule der Medien haben die Entwicklung der App wissenschaftlich begleitet. In diesem Prozess haben wir sie immer wieder von Kindern testen lassen und mithilfe ihres Feedbacks angepasst.
Ist das Digitale eine Chance, neue Zielgruppen zu erreichen?
Sabiha Ghellal:Digitale Angebote sollen die Auseinandersetzung mit den Exponaten vor Ort nicht ersetzen. Sie bieten aber einen zusätzlichen, anderen Zugang. Und dieser Zugang kann zum Beispiel eine jüngere Zielgruppe natürlich neugieriger machen und ihr helfen, den Weg ins Museum zu finden.
Ronny Lehmann: Wir bemerken bei uns in der Tat, dass solche Angebote eine gewisse Klientel-Wanderung bewirken. Unabhängig von Corona ist das Bedeutendste in diesem Zusammenhang die im September eröffnete Robothek. Dort können Interessierte zu Robotik-Themen forschen, mit Robotern spielen und programmieren lernen. Dass Bibliotheken vermehrt MINT-Themen aufgreifen und zum Beispiel MakerSpaces aufbauen, ist ein Trend. Zu den Büchern kommt Neues hinzu, das gesellschaftlich relevant ist.
Wie erleben Sie das, Herr Bücker?
Jonas Bücker: Über unsere Aktivitäten im Netz haben uns Kinder und Jugendliche gefunden, die sonst nicht zu uns kommen. Das waren aber vor allem sozial Privilegierte. Denn wir haben sehr ungleiche Teilhabemöglichkeiten im Digitalen. Ungefähr 40 Prozent unserer Besucher leben in Unterkünften für junge Geflüchtete. Dort gibt es in der Regel kein WLAN und oft keine Rückzugsmöglichkeiten. Sprich: Die Jugendlichen hatten während des Lockdowns kaum Gelegenheit, unsere Angebote zu nutzen. Sie haben ganz oft gefragt: Wann macht ihr wieder auf?
Im Netz haben uns Kinder und Jugendlichen gefunden, die sonst nicht zu uns kommen.
Die Leute digital abzuholen, ist also an der Infrastruktur gescheitert?
Jonas Bücker: Genau. Da geht es nicht unbedingt um Medienkompetenz: Selbst wenn die Jugendlichen diese Kompetenzen gehabt hätten, hätte sie das nicht ins Internet gebracht. Das Hauptproblem ist meiner Meinung nach eine strukturelle Ungleichheit.
Ronny Lehmann: Das kann ich bestätigen. Schon vor Corona haben viele bei uns das kostenlose WLAN genutzt, weil die Strukturen woanders, etwa zu Hause, nicht vorhanden waren. Was das angeht, so ist meiner Erfahrung nach auch nicht wirklich viel passiert im letzten Jahr. Es gibt noch immer viele Defizite bei der Digitalisierung.
Auch Schulen wird hier Nachholbedarf nachgesagt. Wie wichtig sind daher außerschulische Lernorte, um Kinder und Jugendliche ans Digitale heranzuführen?
Ronny Lehmann: Wir haben durchaus den Anspruch, Kinder fit für die Zukunft zu machen – digitale und technische Inhalte spielen hierbei natürlich eine Rolle. Unser Vorteil als außerschulischer Lernort ist, dass wir spielerischer an Dinge herangehen können, ohne Notendruck im Hinterkopf. Bei uns geht es darum, etwas auszuprobieren oder einfach Spaß zu haben. Zudem öffnen sich Jugendliche im außerschulischen Kontext oft mehr. Das ist zum Beispiel wichtig, wenn wir über Themen wie Cybermobbing sprechen.
Jonas Bücker: Unser Auftrag ist es, die Identitätsentwicklung und die demokratische Bildung zu fördern. Dafür schaffen wir Räume, in denen Kinder und Jugendliche neue Erfahrungen sammeln. Digitale Angebote können selbstverständlich ein Raum für diese Bildungsprozesse sein. Und wie Herr Lehmann bereits richtig gesagt hat: Oft ist der Umgang dann freier und ungezwungener als in der Schule.
In welcher Rolle sehen Sie hier die Museen, Frau Ghellal?
Sabiha Ghellal: Auch Museen bieten die Chance, mit bestimmten Technologien in Berührung zu kommen. Die Hauptaufgabe von zum Beispiel einem Naturkundemuseum bleibt es aber, naturwissenschaftliche Informationen zu vermitteln. Digitale Kompetenzen auszubilden, sehe ich eher als Nebeneffekt an. Es gibt tolle Beispiele wie das Badische Landesmuseum Karlsruhe oder das Humboldt-Forum Berlin, die machen extrem viel, was Digitalisierung und die Vermittlung digitaler Fähigkeiten angeht. Aber für viele Häuser ist es auch schon eine Herausforderung, sich zu digitalisieren, ohne dass dieser Bildungsauftrag hinzukommt. Schulen haben da ein ähnliches Problem: Die Deutschlehrerin kennt sich nicht unbedingt mit digitalen Endgeräten aus.
Was muss sich an außerschulischen Lernorten ändern, um das Potenzial digitaler Angebote noch stärker zu nutzen?
Sabiha Ghellal: Aus der Initiative „Digitale Wege ins Museum“ sind bereits Digital-Manager hervorgegangen, die in Museen eingestellt wurden. Viele Häuser sind gerade dabei, sich darüber Gedanken zu machen, was alles digital erlebbar sein soll – und wie. Dafür in Zukunft neue Stellen auszuschreiben, ist aus meiner Sicht eine gute Idee.
Ronny Lehmann: Die Qualifizierung der Mitarbeiter ist wirklich wichtig. Wir sind ein sehr gemischtes Team und verjüngen uns gerade. Man merkt, dass viele der neuen Angestellten ganz anders mit digitalen Medien umgehen – und digitale Themen besser vermitteln können.
Jonas Bücker: Wir haben das Glück, dass wir ein relativ junges Team sind. Alle bringen eine Affinität für das Digitale mit. Das war in der Vergangenheit schon immer hilfreich und während Corona erst recht. Allerdings wird uns zunehmend klar: Digitales Arbeiten ist ein Prozess, in dem ich mich ständig fortbilden muss. Gefühlt haben wir beispielsweise jedes Jahr neue relevante Plattformen, die wir kennen müssen – um auf dem Laufenden zu bleiben und mit der Jugend mitreden zu können.
Haben Sie schon konkrete Pläne für neue Digital-Projekte?
Jonas Bücker: Ja, einen digitalen Bus. Der soll dahin kommen, wo kein Jugendzentrum ist, und jungen Menschen einen niedrigschwelligen Zugang bieten: unter anderem mit WLAN-Hotspot, mobilem Tonstudio und Spielekonsolen. Hierfür hoffen wir auf Fördergelder. Ansonsten möchten wir gerne die Projekte weiter ausbauen, mit denen wir schon gute Erfahrungen gesammelt haben. Selber etwas mit Medien und Technik zu schaffen, wird dabei weiterhin im Fokus stehen. Die Jugendlichen sollen nicht nur konsumieren, sondern die Rolle des Produzierenden einnehmen, sich aktiv mit dem Thema auseinandersetzen.
Ronny Lehmann: Eigenständig und kompetent mit Technik umzugehen, das wollen wir Kindern und Jugendlichen auch mit unserer Robothek ermöglichen. Damit werden wir in der nächsten Zeit hoffentlich richtig durchstarten. Gerade ist ein humanoider Roboter in der Bibliothek eingezogen: der Nao.
Holen Sie sich für Ihre Zukunftspläne auch mal Inspiration aus dem Ausland?
Ronny Lehmann: Auf jeden Fall. Es ist immer hilfreich zu schauen, was andere machen. Meine Chefin war zuletzt zum Beispiel in der Bibliothek Aarhus in Dänemark. Die ist ein Bürgertreffpunkt für alle, mit 3-Druckern, Tonstudios, Spielflächen und innovativen Veranstaltungskonzepten. Doch Austausch ist auch erstrebenswert im eigenen Bundesland, man muss nicht immer weit reisen.
Jonas Bücker: Ich habe gar nicht so einen intensiven Blick ins Ausland. Ich interessiere mich aber für die Herkunftsländer unserer Besucher. Dort haben wir leider oft eine noch viel schlechtere technische Ausstattung als in Deutschland. Der Anspruch muss aber natürlich sein, sich an denen zu orientieren, die weiter sind.
Sabiha Ghellal: Sich Anregung aus dem Ausland zu holen, ist auch für Museen immer gut – ob durch Vor-Ort-Besuche oder im Rahmen von Konferenzen. Es gibt spannende Ansätze, zum Beispiel in Frankreich, Australien oder den Niederlanden, wo künstliche Intelligenz oder Projection Mapping – also die Projizierung von Bildern auf dreidimensionale Objekte – zum Einsatz kommen. Nicht immer lassen sich solche Konzepte jedoch eins zu eins woanders umsetzen. Letztendlich muss jedes Museum seinen eigenen Weg finden.
Das ist gar nicht so leicht, oder?
Sabiha Ghellal: Sowohl Museen als auch Schulen haben mit der Digitalisierung eine große Aufgabe vor sich. Für Museen ist hier die Anwendungsforschung ganz wichtig. Sie müssen testen, was funktioniert und bei den Besuchern ankommt. Manches ist auch eine konzeptionelle Frage: Möchte ich zum Beispiel als Kunstmuseum, dass Besucher digital durch ein Bild laufen und damit Teil des Kunstwerks werden? Oder ist das eine Trivialisierung, die ich an dieser Stelle nicht will? All das herauszufinden, ist ein spannender Prozess. Zum Glück gibt es immer mehr Förderungen, um Museen finanziell auf diesem Weg zu unterstützen.
Ronny Lehmann: Auch wir als Bibliothek müssen uns fragen, was kann Digitalisierung leisten und was nicht? Wir haben längst den Schritt vom reinen Ausleihgeschäft zum Ort der Begegnung vollzogen. Unsere Besucher fordern den persönlichen Kontakt vor Ort ein und fragen neben digitalen auch analoge Angebote nach. Da, wo wir Digitalisierung einsetzen, wollen wir sie richtig machen. Das heißt: Wir müssen Geld in die Hand nehmen und langfristig denken.
Jonas Bücker: Begegnung ist ein gutes Stichwort: Digitale Angebote werden künftig eine immer größere Rolle spielen – und einen Rahmen bieten, in dem wir uns begegnen können. So viel ist klar. Entscheidend ist aber die Begegnung. Entscheidend ist, dass wir zusammen in eine Interaktion kommen. Und dafür brauchen wir – zumindest in der Jugendarbeit – einen gemeinsamen Treffpunkt in der realen Welt.
ZU DEN PERSONEN
Jonas Bücker
arbeitet im Kinder- und Jugendzentrum GOT Elsaßstraße in Köln, das im Rahmen der Initiative „Ich kann was!“ auch schon von der Telekom-Stiftung unterstützt worden ist. Als pädagogische Fachkraft will er für junge Menschen aus dem Viertel Räume schaffen, in denen sie sich sicher fühlen, neue Dinge ausprobieren und sich weiterentwickeln können. Digitales gehört da ganz selbstverständlich dazu, aber am liebsten vor Ort – zum Beispiel beim gemeinsamen Videodreh oder Spieleabend. Seine Erfahrung aus der Corona-Zeit: Rein digitale Angebote erreichen vor allem viele sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche gar nicht.
Sabiha Ghellal
ist Professorin für Experience und Game Design an der Hochschule der Medien Stuttgart. Im Rahmen der Initiative „Digitale Wege ins Museum“ hat sie digitale Museumserlebnisse mitgestaltet und getestet. Dabei entstanden unter anderem die App NatureWorld in Zusammenarbeit mit dem Naturkundemuseum Stuttgart sowie der „Raum 14“ der Staatsgalerie Stuttgart. Dort können Besucher mithilfe künstlicher Intelligenz ihre Lieblingskunst finden oder sich mit dem Virtual-Reality-Spiel „Art Hunters“ auf eine spannende Spurensuche im Kunstarchiv begeben.
Ronny Lehmann
ist Bildungskoordinator in der Stadtbibliothek Gotha und kümmert sich auch um Angebote für Kinder und Jugendliche – von der KinderUni bis zur Gaming-Zone mit Playstation. Denn Bibliotheken sind längst nicht mehr nur zum Bücherausleihen da. Für den erfolgreichen Einsatz digitaler Bildungsangebote wurde die Stadtbibliothek Gotha als „Bibliothek des Jahres 2020 in kleinen Kommunen und Regionen“ ausgezeichnet. Die Telekom-Stiftung vergibt diese Auszeichnung zusammen mit dem Deutschen Bibliotheksverband. Mithilfe des Preisgeldes entstand die Robothek, ein ganz neuer Bereich rund um das Thema Robotik.
Der Artikel ist in Ausgabe Nr. 10 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Digitales Lernen“ erschienen.