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Bewusster lernen – und leben

Text: Max Gehry | Lesezeit: 6 Minuten
Das Bild zeigt Nina Carryer, die mit Kindern im Schulunterricht Teig anrührt.
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Was ist Nachhaltigkeit? Irgendwie ist das klar. Und irgendwie auch wieder nicht. Wir haben Menschen getroffen, die mit Kindern und Jugendlichen Antworten auf eine große Frage suchen. Ganz praxisnah.

Na so was. Da hat Nina Carryer der vierten Klasse an der Otto-Hahn-Schule in Berlin-Neukölln nun eine halbe Stunde lang erklärt, wie ein Cheeseburger auf die Welt kommt. Die Kinder wissen jetzt, dass viele Menschen arbeiten müssen, damit 150 Gramm gebratenes Hack mit Käse, Tomaten, Zwiebeln, Gewürzgurken, Ketchup und Mayonnaise zwischen zwei weichen Brötchenhälften auf den Teller kommen. Sie haben eine Ahnung davon gewonnen, woher diese Zutaten stammen, und verstanden, wie viele Ressourcen darin stecken. Für jeden Schritt auf dem Weg vom Acker bis zum Teller hat Carryer symbolisch etwas auf einen Tisch gestellt: ein Pflanzentöpfchen – für das Getreide, aus dem Mehl für Burgerbrötchen wird. Außerdem: zwei Playmobil-Figuren (Bäuerin und Bauer), eine Wasserflasche, einen kleinen Lkw, ein Miniflugzeug und eine Spielzeugkuh mit Kälbchen. Und jetzt nimmt sie das alles – und stopft es in eine Mülltüte. „Das“, sagt sie, „ist ein Moment, in dem den Kindern klar wird, was alles im Abfall landet, wenn wir Essen wegschmeißen.“

Nina Carryer arbeitet für Restlos glücklich. Der gemeinnützige Verein aus Berlin tut etwas gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. 18 Millionen Tonnen Essen landen in Deutschland jährlich im Müll, ein großer Teil davon zu Hause. „Weil wir zu viel einkaufen, Lebensmittel falsch lagern und Reste nicht verwerten“, sagt Carryer.

Dieser Wegwerfwahn ist zum Verzweifeln. Restlos glücklich bietet ihm lieber Paroli. Das Ziel: Menschen sollen ihre Lebensmittel wertschätzen, weniger Essen wegwerfen, Übriggebliebenes kreativ einsetzen und so Gutes tun für die Welt – und für sich. Dafür setzt der Verein auf: Bildung. „Viele denken“, sagt Carryer, „wer Lebensmittel retten will, muss sich Gummihandschuhe anziehen, eine Kopftaschenlampe aufsetzen und in Supermarkt-Containern nach abgelaufenen Spirelli-Packungen oder fleckigen Birnen wühlen. Dabei können wir Lebensmittel jeden Tag zu Hause retten.“

Was Essen angeht, werden unsere Gewohnheiten schon als Kind geprägt. Deshalb konzipiert Restlos glücklich viele Projekte für Kindergärten und Grundschulen. Beim Workshop School Lunch etwa, den Bildungsreferentin Nina Carryer koordiniert, wurden seit 2018 mehr als 3.000 Kinder an fast 100 Berliner Schulen zu Lebensmittelrettern ausgebildet. Die Kinder lernen spielerisch, welche Lebensmittel im Kühlschrank wohin kommen, damit sie länger frisch bleiben. Oder dass es besser ist, sich bei den Vorräten zu Hause nicht stur aufs Mindesthaltbarkeitsdatum zu verlassen, sondern durch Schauen, Tasten, Riechen und Schmecken zu testen, was noch verzehrbar ist.

Dafür steht Nina Carryer nicht mit dem erhobenen Zeigefinger vor Schulklassen. Ein interaktives Whiteboard hat sie genauso dabei wie Quizfragen, Rätsel, Erklärvideos oder Aufgaben, die die Schüler in Gruppen bearbeiten. Außerdem kommt Carryer mit einer Profi-Köchin ins Klassenzimmer und zaubert mit den Kindern in einer mobilen Küche aus krummen Möhren, angedetschten Äpfeln oder übrig gebliebenem Brot ein köstliches Drei-Gänge-Menü.
 

Elektromeister Andreas Milchner mit Jugendlichen
Im Un-Ruhestand: Elektromeister Andreas Milchner zeigt Jugendlichen, wie man Kaputtes rettet.

 

Nachhaltigkeit gehört in die Schule. Darüber sind sich alle einig. Über das Wie wird hingegen viel diskutiert und wie bei allen Themen, vor denen sich die Gesellschaft lange gedrückt hat, werden reflexartig Rufe nach einem neuen Unterrichtsfach laut. Für manche ist das ein Grund, nichts zu unternehmen. Glücklicherweise gibt es immer wieder Menschen, die einfach machen – obwohl es so einfach nicht ist. Menschen, die Kindern und Jugendlichen mehr von dem vermitteln, was sie für ihr Leben brauchen. Menschen, die überall dort zu finden sind, wo Kinder und Jugendliche auch abseits von Schule lernen: in Jugendzentren, Vereinen oder Bibliotheken. Menschen wie Nina Carryer. Oder Andreas Milchner.

Milchner ist 63 Jahre alt. Er wohnt dort, wohin andere zur Kur fahren: Bad Rothenfelde, im Dreieck Bielefeld-Münster-Osnabrück. Untätig im Sessel sitzen oder sich im Solebad die Zeit vertreiben, das kennt Andreas Milchner nicht. Mehr als 20 Jahre lang hat sich der Elektromeister im mittleren Management eines Energiekonzerns von morgens bis abends für seinen Job eingesetzt – mit Mitte 50 stieg er aus. An seiner Haltung aber hat sich nichts geändert: „Leben ist Bewegung, Entwicklung, Lernen“, sagt er. „Ich wollte nie jemand von denen sein, die in Rente gehen und ihr Wissen und Können nicht mehr nutzen.“ Also sagte er Ja, als ihn die niedersächsische Unternehmerinitiative Let’s MINT fragte, ob er eine Reparierwerkstatt für Schüler leiten wolle. Seitdem fährt Milchner, wenn es die Pandemie zulässt, während der Schulzeit donnerstags ins benachbarte Bad Laer und zeigt Acht- und Neuntklässlern der GeschwisterScholl-Oberschule eine Doppelstunde lang, wie man Kaputtes rettet.

„Nachhaltigkeit“, sagt er, „ist zu einem Modewort geworden. Da schwingt alles Mögliche mit. Ich vermeide das Wort, wo ich kann, und versuche Jugendlichen lieber zu zeigen, was sie konkret machen können.“ Zusammen machen sie Staubsauger, Bügeleisen oder Toaster wieder ganz – damit die Schüler es beim nächsten Mal selbst können. So zeigt ihnen Milchner, wie sie den üblichen Kreislauf aus kaufen, kurz nutzen, wegwerfen, neu kaufen durchbrechen. „Sie sollen lernen, dass Dinge nicht gleich in den Müll fliegen müssen, wenn sie nicht mehr funktionieren“, sagt er.

Wenn ein Schüler vor einem defekten Föhn sitzt und „Herr Milchner, können Sie mal kommen“ ruft, geht es allerdings nicht allein darum, dass das Gerät danach wieder läuft. „Schön, wenn das Ding nach langer Fummelei wieder Haare trocknen kann“, sagt Milchner. Aber eigentlich sei das zweitrangig. Wichtiger: „Wer repariert, muss verstehen, warum etwas nicht mehr funktioniert.“ Es geht also beim Schrauben, Basteln und Tüfteln auch um Neugierde, Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung, um Sich-Zeit-Nehmen, Selbstvertrauen und Kreativität sowie um Logik und analytisches Denken. „Reparieren“, sagt Milchner, „hat eben nicht nur mit Dingen, sondern auch sehr viel mit Menschen zu tun.“

 

Constanze Klotz im Gespräch Seminarteilnehmerinnen
Constanze Klotz von Bridge & Tunnel produziert nachhaltige Mode – und gibt ihr Wissen an auch Schulen weiter.


Gut dreieinhalb Stunden mit Bus, Zug und S-Bahn von Bad Laer entfernt, hat auch Constanze Klotz nicht die große, alles erklärende Antwort parat, was Nachhaltigkeit denn nun ist. Sie treiben selbst viele Fragen um: Kann Mode anders sein? – ist eine davon.

Constanze Klotz, promovierte Kulturwissenschaftlerin, hat zusammen mit der Textildesignerin Hanna Charlotte Erhorn Bridge & Tunnel gegründet. Seit 2016 verwandelt das Fair-Fashion-Label im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg Stoffreste und ausrangierte Jeans in Jacken, Rucksäcke oder Kissenhüllen. Die Mission ist klar: die Ära des schnellen Konsums  beenden. „Die ModeIndustrie basiert darauf, Leuten, die genug haben, immer wieder etwas Neues zu verkaufen“, sagt Klotz. „Wir müssen weniger und bewusster kaufen und in Qualität investieren. Am nachhaltigsten ist es, Kleidung so lange wie möglich zu tragen.“

Der Firmenname Bridge & Tunnel ist räumlich und metaphorisch gemeint: weil Wilhelmsburg von zwei Elbarmen umschlossen wird und nur per Brücke oder Tunnel erreichbar ist. Und weil Klotz und Erhorn Brücken bauen wollen – für Menschen, die kaum Chancen auf Arbeit haben. Die Frauen und Männer, die aus Jeansstoff neue Designerteile nähen, stammen aus der Türkei, Indien, Ghana, Nigeria, dem Irak oder Russland. Jedes Stück ist ein Unikat. Das Etikett zeigt, wer es genäht hat: Asiye, Zeliha, Mandeep, Alice, Idowu, Sayed oder Svetlana. Mit dem Konzept will Bridge & Tunnel vormachen, wie man Erfolg haben kann, ohne sich anzupassen, und – so vermessen es auch klingt – den Widerspruch von Mode und Nachhaltigkeit in einer milliardenschweren Branche mildern. „Ich glaube, dass es einen Mittelweg gibt zwischen einem T-Shirt für einen Sommer und dem kompletten Verzicht auf Mode.“

Deshalb geht die Firmengründerin an Hamburger Schulen und führt Klassen durch die Produktion bei Bridge & Tunnel. Sie spricht mit ihnen darüber, warum die Mode immer billiger und kurzlebiger geworden ist – und immer schneller im Müll landet. Diskutiert mit ihnen über die Konsequenzen, die hinter einem T-Shirt für 1,99 Euro stecken. Und gibt ihnen Tipps, wie sie auch mit wenig Taschengeld in SecondhandLäden oder auf Kleidertauschpartys an hochwertige Klamotten kommen. „Wenn nur ein paar Schülerinnen und Schüler verstehen, dass nicht sozial gerechte, ressourcen-, umwelt- und klimaschonende Mode zu teuer ist, sondern herkömmliche Mode zu billig – uns aber teuer zu stehen kommt“, sagt Constanze Klotz, „dann habe ich ein paar Sachen richtig gemacht.“


Der Artikel ist in Ausgabe Nr. 11 unseres Bildungsmagazins sonar zum Thema „Nachhaltigkeit“ erschienen.